Ob es exakt am 26. Oktober 1922 war oder vielleicht schon ein paar Tage früher, ist nicht ganz sicher. Sicher aber war es im Oktober vor 100 Jahren, als in der Romandie die ersten Radioklänge durch den Äther schwirrten.
Die Geburt des Radios verdankt die Schweiz nicht der Suche der Journalie oder der Behörden nach mehr Publikum oder neuen Kanälen – sondern der Regelung der aufblühenden Luftfahrt.
Radio war zunächst Flugfunk. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg versuchte die französische Compagnie des Grands Express Aériens ihr Liniennetz auszubauen. Nach den ersten Passagierflügen von Paris nach London wollte sie eine Linie von Paris nach Lausanne und weiter nach Italien lancieren.
Um mit den Piloten, die in den kleinen Propellerflugzeugen das Flugfeld nahe Lausanne ansteuerten, Kontakt aufnehmen zu können, wurde der Ingenieur Roland Pièce beauftragt, einen Sendemast neben dem Champ-de-l’Air zu installieren.
Die Technologie, die der Waadtländer dabei verwendete, war die sogenannte Radio-Telefonie. Im Ersten Weltkrieg hatte die Schweizer Armee damit bereits experimentiert. Anders als bei der älteren Radio-Telegrafie konnten damit nicht nur die einfachen Morsezeichen auf elektromagnetischen Wellen durch den Äther gejagt werden, sondern auch komplexere akustische Signale wie Sprache oder Musik.
Doch der Technik-Freak Pièce liess es nicht bei der Abwicklung des Flugverkehrs bewenden. Er wollte mehr, er wollte «Radio» machen – ohne wissen zu können, welche rasante Karriere das neue Medium schon bald hinlegen sollte, zum Beispiel als «Volksempfänger», den die Nazis schon kurz nach ihrer Machtergreifung 1933 begannen unter die Leute zu bringen.
An einem Oktobertag 1922 lud Roland Pièce also eine Sängerin und ein paar Musiker in den kleinen Raum seiner Funkstation auf dem Lausanner Flugfeld. Und am anderen Ende der Stadt, im Hotel Beau-Rivage, wo die geladenen Gäste versammelt waren, liess er einen Empfänger und einen Lautsprecher aufstellen.
Dieses heute skurril anmutende Radio-Happening – Zuhören nur auf Einladung – gilt offiziell als Geburtsstunde des «Rundspruchs» in der Schweiz. Gefeiert wird dies derzeit von Radio Télévision Suisse (RTS) in einer mehrteiligen Podcast-Serie.
Auch die Flugplatz-Sender von Kloten (1924) und Genf (1926) versuchten sich mit Rundfunk-Sendungen, wie das «Historische Lexikon der Schweiz» weiss. Und wie heute Insta und Youtube faszinierten die damaligen «neuen Medien» auch schon vor 100 Jahren: Waren bis Ende 1923 erst knapp 1000 Empfangskonzessionen gelöst worden, so zahlten 1930 bereits über 100'000 Konzessionäre Gebühren für Radioempfang – trotz all dem Rauschen und Knacken und den oft langfädigen Lesungen.
Erst mit den Jahren und dank der Aufzeichnungstechnik sollte sich ein journalistisches Handwerk entwickeln, das Radiohören mehr und mehr zum Genuss machte – mit thematischen Musikprogrammen, Montagen aus literarischen Zitaten, Musik und Reportagen, Nachrichtensendungen und Hörspielen.
Finanziell haperte es aber. Die Gebühreneinnahmen der privaten Sender reichten nirgends hin. Ende der 1920er-Jahre standen die kleinen Stationen vor dem Ruin. Der Bundesrat sah den Handlungsbedarf, oder er witterte die Gunst der Stunde – auf jeden Fall nahm er das Heft in die Hand und beschränkte das Programmangebot kurzum auf die drei Landessender Beromünster, Sottens und Monte Ceneri, wobei er sich an der britischen Radiopolitik mit der gerade erst gegründeten British Broadcasting Corporation (BBC) orientierte.
Der Flugfunker und Radiopionier Roland Pièce wurde mit dem Aufbau des französischsprachigen Landessenders in Sottens betraut. Bis zu seiner Pensionierung 1962 sollte er mit Leib und Seele dessen technischer Leiter bleiben, wie es in seinen 1972 erschienenen Memoiren «La radio, ma vie» nachzulesen ist.
Mit der Intervention des Bundes war der Äther fortan nicht mehr privates Experimentierfeld, sondern top-down organisierter Service public. 1931 wurde die Radioreform mit der Gründung der «Schweizerischen Rundspruchgesellschaft» besiegelt. Der Rest der Geschichte ist bekannt.