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Sonntag
30.06.2024

TV / Radio

Von 2008 bis 2015 war der Einsatz der versteckten Kamera in der Schweiz quasi verboten: Ceppi hat ein Buch darüber geschrieben... (Bild © Raphael Hünerfauth / RTS)

Von 2008 bis 2015 war der Einsatz der versteckten Kamera in der Schweiz quasi verboten: Ceppi hat ein Buch darüber geschrieben... (Bild © Raphael Hünerfauth / RTS)

Jean-Philippe Ceppi ist das Aushängeschild des investigativen Journalismus des Westschweizer Fernsehens RTS. 

Jetzt hat der 61-jährige Lausanner ein Buch über die Geschichte der versteckten Kamera im TV-Journalismus publiziert. Die Journalistin Eva Hirschi hat für den Klein Report mit ihm gesprochen.

Medienschaffende sind gemäss Journalistenkodex dazu verpflichtet, ihren Beruf bei der Beschaffung von Informationen offenzulegen. Wann sind verdeckte Recherchen dennoch möglich?
Jean-Philippe Ceppi
: «Verdeckte Recherchen sind nur in Ausnahmefällen zulässig, nämlich, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den gesuchten Informationen besteht und diese nicht auf andere Art und Weise beschafft werden können. Konkret muss man das von Fall zu Fall beurteilen. In der Schweiz steht das öffentliche Interesse über allem. Man muss sich auch überlegen, ob die Methode verhältnismässig ist. Ist die verdeckte Kamera als letztes Mittel wirklich geeignet, um etwas zu zeigen?»

Während sieben Jahren, von 2008 bis 2015, war der Einsatz der versteckten Kamera in der Schweiz allerdings quasi verboten.
Ceppi: «Ja, das geht auf einen Beitrag der SRF-Sendung ‚Kassensturz‘ zurück. Die Journalisten hatten einen Vorsorgeberater gefilmt, wie er einer jungen Frau – ebenfalls eine Journalistin – überrissene Versicherungsprodukte verkaufen wollte. Die Journalisten wurden verklagt und aufgrund von Art. 179 StGB verurteilt. Das Urteil des Bundesgerichts: Das Filmen des Versicherungsvertreters mit versteckter Kamera habe dessen Privatbereich verletzt – dies trotz verfälschter Stimme, verdecktem Gesicht und ohne Namensnennung. Dieses Urteil diente fortan als Rechtsprechung – bis 2015. Denn die SRG hatte 2008 Rekurs gegen das Bundesgericht eingelegt und gewann vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dieses korrigierte den Bundesgerichtsentscheid und hielt fest: Die verdeckte Kamera sei in diesem Fall berechtigt gewesen, das öffentliche Interesse sei grösser als der Schutz der Privatsphäre.»

Wie haben Sie diese Zeit von 2008 bis 2015 als Produzent erlebt?
Jean-Philippe Ceppi: «Es waren sieben sehr frustrierende Jahre, weil die SRG uns keine verdeckten Aufnahmen mehr erlaubte, gleichzeitig aber Sendungen aus dem Ausland einkaufte, in welchen verdeckte Kameras eingesetzt wurden. Dies änderte sich mit dem Urteil aus Strassburg zum Glück. Und ich muss sagen: Die jetzige Verantwortliche des Rechtsdienstes der RTS, Michèle Steudler, ist sehr offen, versteht die Rolle der Medien und unterstützt uns sehr. Wir arbeiten eng mit dem Rechtsdienst zusammen. Dieser hat eine beratende Funktion, die Entscheidung liegt dann bei der Chefredaktion.» 

Dennoch gerieten Sie sich als Produzent von «Temps Présent» einmal gar mit der Geschäftsleitung der RTS in die Haare. Was waren die Gründe dafür?
Ceppi: «Ich wurde sogar sanktioniert, weil ich für eine Reportage ohne Absprache eine verdeckte Kamera eingesetzt habe. Bei dieser Reportage hatten wir herausgefunden, dass man in Genf einen Auftragskiller für 15‘000 Franken anheuern konnte. Natürlich verstehe ich die Zurückhaltung eines Medienhauses. Dem Arbeitgeber geht es ja auch um sein Image, insbesondere als vorderster Service-public-Sender. Einerseits muss das Medienunternehmen guten Journalismus ermöglichen, andererseits hat es aber auch eine Verantwortung und muss dafür sorgen, dass das Publikum nicht das Vertrauen in die Medien verliert – oder plötzlich Angst hat, dass sich überall Medienschaffende infiltrieren und mit versteckter Kamera filmen.»

In Ihrem kürzlich publizierten Buch vergleichen Sie die Geschichte der versteckten Kamera in Frankreich, England, den USA und der Schweiz. Welche Unterschiede haben Sie festgestellt?
Jean-Philippe Ceppi: «Interessant ist, dass sich die Anwendung der versteckten Kamera in der Schweiz und in Frankreich ganz anders entwickelt hat als in den angelsächsischen Ländern. In der Schweiz und in Frankreich musste sich die Pressefreiheit und Recherchefreiheit schnell einmal dem Persönlichkeitsschutz unterordnen. In den angelsächsischen Ländern wird das öffentliche Interesse hingegen viel höher gewichtet. Das sieht man etwa bei den Pentagon Papers oder der Watergate-Affäre. In Frankreich gab es vergleichsweise wenig verdeckte Recherche und die Schweiz hinkte dieser Entwicklung nochmals nach. Erst ab den 1990er-Jahren setzte das Schweizer Fernsehen immer mehr auch auf die verdeckte Kamera. Die kulturellen, aber auch rechtlichen Unterschiede in den jeweiligen Ländern sind dafür verantwortlich.»

Sie haben seit Kurzem die Produktion von «Temps Présent» abgegeben, um wieder als Journalist zu arbeiten. Daneben sind Sie aber innerhalb der RTS neu auch in einer beratenden Funktion für deontologische Fragen zuständig. Werden Sie den Einsatz von versteckter Kamera einschränken oder fördern?
Ceppi: «Meine Rolle ist es nicht, Polizist zu spielen. Ich habe viel mit einer kanadischen Kollegin vom öffentlich-rechtlichen Medium CBC Canada gesprochen, die dort eine ähnliche Rolle hat, wie ich sie jetzt übernehme. Ich teile ihre Vision: Es geht darum, Journalistinnen und Journalisten zu helfen, wagemutiger zu sein, gleichzeitig aber auch, Risiken zu minimieren. Was deontologisch richtig ist, ist nicht unbedingt juristisch korrekt – und umgekehrt. Ich finde, es gibt noch viel Potenzial für verdeckte Recherchen. Es hat aber auch seine guten Seiten, dass wir in der Schweiz die verdeckte Kamera mit Zurückhaltung einsetzen. Wir dürfen das Vertrauen des Publikums nicht verlieren.»

Jean-Philippe Ceppi kam 2001 zur RTS und arbeitete fortan für das Informationsmagazin «Temps Présent», eine der bekanntesten und beliebtesten Sendungen der RTS. 2005 wurde er deren Produzent. Im Rahmen seiner Doktorarbeit hat Jean-Philippe Ceppi kürzlich ein Buch publiziert zur Geschichte der versteckten Kamera im Journalismus: «Glisser sur une glace dangereusement fine. La caméra cachée en journalisme de télévision, France, Etats-Unis, Grande-Bretagne, Suisse (1960-2015)», Alphil-Verlag, 2024.