Die Definitionen von SLAPPs (Strategic lawsuits against public participation) sind in der politischen Debatte nicht immer sehr scharf.
Es geht ja auch um die Durchsetzung der Interessen der verschiedenen Akteure, darunter neben den Medienhäusern auch Nichtregierungsorganisationen wie Public Eye oder der Bruno Manser Fonds, die sich im letzten September zu einer Allianz gegen Einschüchterungsklagen zusammengeschlossen haben.
Im Nachgang zur ZHAW-Studie «Missbräuchliche» Gerichtsklagen gegen Schweizer Medienschaffende haben Chefredaktorin Ursula Klein und Redaktor Simon Wenger bei Studienleiter Vinzenz Wyss nachgefragt, wie innerhalb der Medienbranche mit SLAPPs umgegangen wird.
Der Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) erfuhr, wie quasi präventiv zurückhaltend von Journalistinnen und Journalisten agiert wird, um sich keiner SLAPP-Gefahr auszusetzen, und wie Chefredaktoren nicht gerne zugeben, dass sie sich haben einschüchtern lassen. Viele Erzählungen bezögen sich auf andere.
Wie lautet die wissenschaftliche Definition von SLAPPs?
Vinzenz Wyss: «Das Interessante ist, dass der juristisch relevante Begriff SLAPP rechtswissenschaftlich nicht wirklich definiert wird. Das macht das Phänomen ja so komplex. Es besteht also eine Unschärfe bei der Definition. Mindestens zwei Elemente werden jedoch auch von Jurist:innen immer wieder genannt: Es handelt sich um eine Massnahme mit dem Ziel, Publizität zu vermeiden und diese Massnahme ist aus juristischer Sicht missbräuchlich. Insbesondere Journalist:innen sehen des Weiteren eine Machtasymmetrie zugunsten des Klägers. Ausserdem wollen sie eine offensichtliche Unbegründetheit der Klage feststellen, obwohl der berichtete Gegenstand von öffentlichem Interesse sei.»
Also eine ziemlich vage Definition …?
Vinzenz Wyss: «Genau. Gerade die Vagheit und die unterschiedlichen Interpretationen von Kläger:innen und Beklagten macht es auch für einen Richter oder eine Richterin schwierig, SLAPP in einem möglichst frühzeitigen Stadium eines Prozesses als SLAPP zu identifizieren. Streng genommen kann man erst von SLAPP sprechen, wenn ein Richter nach der Prüfung des ganzen Falls das Vorgehen der Klägerin als missbräuchlich interpretiert.»
Wo sehen Sie als Journalistik-Professor die grösste Gefahr, die von SLAPPs im Medienbereich ausgeht?
Wyss: «Wenn wir zur Kenntnis nehmen, wie wenig konkrete SLAPP-Fälle es in der Schweiz gibt, so besteht die grösste Gefahr darin, dass Journalist:innen quasi präventiv zurückhaltend agieren, um sich keiner SLAPP-Gefahr auszusetzen. Sollte SLAPP Schule machen, so sehe ich tatsächlich das Problem, dass insbesondere die von Investigativjournalist:innen wahrgenommene SLAPP-Gefahr zu einer Art Selbstzensur führt, über Themen von öffentlichem Interesse nicht mehr zu berichten. Es ist jedoch gerade in einer Demokratie wesentlich, dass die Medien insbesondere über Machenschaften einflussreicher Akteure frei berichten können. SLAPPs zielen mitten ins Herz des Journalismus. Anders als in anderen Bereichen haben entsprechende Klagen oder deren Androhung zur Folge, dass der Journalismus in der Ausübung seiner Kernfunktion beeinträchtigt wird; nämlich in der Erwartung, aufgrund investigativer Recherchen auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen.»
Sie und Ihr Team mit Louis Schäfer, Mirco Saner und Guido Keel wurden vom Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) nun beauftragt, die Häufigkeit und Dynamik von SLAPPs in der Schweiz unter die Lupe zu nehmen. Sie haben dafür 142 Chefredaktoren online befragt.
Welcher Slapping-Fall war aus Ihrer Sicht der schlimmste?
Wyss: «Ich könnte jetzt die bekannten Beispiele wie etwa den Fall in der Westschweiz nennen, in dem ein Banker das Onlinemagazin Gotham City quasi lahmlegen konnte. Auch die Fälle Credit Suisse gegen ‚Insideparadeplatz‘ oder SLAPPs gegen die Bruno-Manser-Stiftung in der Deutschschweiz könnten genannt werden. Beeindruckt haben mich aber Schilderungen von Inhouse-Medienanwält:innen, dass auch bei grösseren Medienhäusern die Angst vor entsprechenden Klagen dazu führen kann, dass ein Chefredaktor die Journalist:innen anweist, es lieber sein zu lassen, weil die zeitliche Belastung sonst aus dem Ruder laufen kann.»
Wahrscheinlich zögern einige Anwälte von Medienhäusern auch, Ihnen gegenüber konkrete Fälle zu nennen?
Vinzenz Wyss: «Das ist genau ein Problem, das sich auch in anderen Studien im Ausland schon gezeigt hat: Chefredaktoren geben nicht gerne zu, dass sie sich haben einschüchtern lassen. Viele Erzählungen beziehen sich auf die anderen.»
Und was war aus Ihrer Sicht ein besonders absurder Fall, sozusagen eine Farce?
Wyss: «Mir ist aufgefallen, dass Journalist:innen sehr rasch von SLAPP reden, auch dann, wenn es aus einer juristischen Perspektive grosse Zweifel gibt, ob ein Richter oder eine Richterin dies auch so einstufen würde. Ich nenne jetzt einen Fall, zu dem ich selbst mal öffentlich gesagt habe, der Fall rieche nach SLAPP. CH Media machte vor rund einem Jahr publik, dass Brigitte Beck, die damalige Direktorin von Ruag, in einem Interview brisante Aussagen machte und dann mit juristischen Mitteln drohte, um die Veröffentlichung zu vermeiden. Da scheint mir nun im Nachhinein die Einstufung als SLAPP doch etwas voreilig gewesen zu sein.»
Im Vorgespräch mit dem Klein Report haben Sie erwähnt, dass Chefredaktoren bekannter Medienhäuser das SLAPP-Thema nicht als allzu grosses Problem sehen. Worauf führen Sie das zurück?
Vinzenz Wyss: «Tatsächlich haben mir auffällig viele Chefredaktoren ausrichten lassen, dass sie zu dem Thema kaum etwas zu sagen haben. Das Problem wird höchstens als mittelgross eingestuft. Das kann verschiedene Gründe haben. Entweder ist es so, dass es die rechtlichen und finanziellen Ressourcen grösserer Medien zulassen, sich auf einen Prozess oder eine aussergerichtliche Einigung einzulassen. Dies natürlich in der Annahme, dass sie letztlich gewinnen werden. Der mögliche Rückgriff auf rechtliche Ressourcen inhouse kann ausserdem helfen, Texte vor Publikation sattelfester zu machen. Auf der anderen Seite haben wir natürlich nur selten gehört, dass man in einem solchen Fall dann halt zu einem Deal bereit ist, der ja wiederum berufskulturelle Regeln verletzt. Schliesslich kann auch interpretiert werden, dass die Chefredaktoren wie manche externe Rechtsanwälte der Auffassung sind, dass das Schweizer Rechtssystem bereits Massnahmen enthält, mit denen SLAPPs bekämpft werden können.»
Weshalb wird aus Ihrer Sicht innerhalb der Medienbranche nicht diskutiert, dass ausgerechnet die Medienhäuser selber die klagefreudigsten Protagonisten sind, wenn es um sie selber geht?
Vinzenz Wyss: «Einige medienexterne Rechtsanwälte haben durchaus betont, dass es nicht immer zutreffe, dass die Medien die Davids und die Oligarchen die Goliaths seien. Es soll ja auch Fälle geben, bei denen die Jurist:innen der Medienhäuser selbst zumindest slappähnliche Praktiken anwenden.»
Auf dem politischen Parket hat die Rechtskommission des Nationalrats im November 2022 argumentiert, dass missbräuchliche Klagen gegen Medien in der Schweiz nur «äusserst selten» vorkämen. Sind es wirklich so wenige oder wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Wyss: «Ich weiss, dass ich mit diesem Befund unserer Studie manche enttäusche, die das selbst anders wahrnehmen. Das hängt nicht zuletzt auch an der Vagheit des Begriffs. Um im juristischen Sinne von SLAPP reden zu können, müsste eine definitive Einschätzung einer gerichtlichen Instanz vorliegen. Es muss aber auch gesagt werden, dass jeder Fall einer zu viel ist.»
Ebenfalls Teil der Studie war die Frage nach den Auswirkungen, die SLAPPs auf die Schweizer Medienhäuser haben, wenn sie von Konzernen über Monate mit Klagedokumenten eingedeckt werden. Wie kann man überhaupt nachweisen, dass es dadurch bei den Journalisten und Journalistinnen zur Selbstzensur kommt?
Vinzenz Wyss: «Da treffen sie wieder einen wunden Punkt. Tatsächlich ist der Einfluss von als missbräuchlich wahrgenommenen Klagen, etwa der sehr häufig angesprochene Chilling Effekt, kaum messbar. Wir können nur die Schilderungen der Befragten wiedergeben. Auch andere Studien zeigen, dass Journalist:innen dazu neigen, solche Einflüsse von Klagen auf ihre Arbeit abzustreiten. Sie wollen ja nicht Teil einer Branche sein, die sich selbst zensiert. In einem Interview wurde uns gesagt, dass es Redaktionen geben soll, die Listen mit Personen oder Unternehmen führen, über die man besonders vorsichtig berichten müsse. Ob Selbstzensur bereits da beginnt, kann ich nicht beurteilen.»
Aus langjähriger Erfahrung des Klein Reports gilt es auch zu bedauern, dass Journalisten sich selten wehren. Wie schätzen Sie das ein?
Wyss: «Es wurde von vielen Befragten beklagt, dass solche Fälle kaum an die Öffentlichkeit getragen wurden. Ein Grund dafür kann natürlich sein, dass man der Konkurrenz nicht die journalistische Story unter die Nase halten will. Dennoch wurde in der Studie mehrheitlich betont, dass die Medienbranche ein Interesse daran haben müsse, als missbräuchlich wahrgenommene Fälle als solche öffentlich zu thematisieren. Ausserdem wird gefordert, dass man sich innerhalb der Branche viel mehr dazu austauschen und Erfahrungen im Umgang mit dem SLAPP-Phänomen austauschen müsse.»
Das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) hat gemeinsam mit der Medienbranche einen nationalen Aktionsplan zur Sicherheit von Medienschaffenden in der Schweiz erstellt. Ist dieser Aktionsplan ein mögliches Hilfsmittel zur Stärkung der Medienschaffenden und der Verlagshäuser?
Wyss: «Zur Stärkung der Medienbranche braucht es viel mehr; gerade in einer Zeit, in der die Finanzierung des Journalismus in den Sternen steht. Der Aktionsplan kann aber helfen, das Bewusstsein für die unverzichtbare Funktion des Journalismus für unsere Gesellschaft zu stärken und eben dafür zu sensibilisieren, wie anfällig ein schwächelnder Journalismus ist.»
Mittlerweile schwappt ja auch das System der besonders klagefreudigen USA auf Europa über. Die EU-Kommission hat im April 2022 einen Entwurf für eine Richtlinie vorgelegt. Was bräuchte es aus Ihrer Sicht, um SLAPPs in der Schweiz regulatorisch in den Griff zu bekommen?
Wyss: «Die meisten der von uns befragten Rechtsexpert:innen sind der Auffassung, dass die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zur Abwehr von SLAPP insbesondere in der Zivilprozessordnung ZPO ausreichen würden. Dennoch werden interessante Vorschläge gemacht, wie man in regulatorischer Hinsicht ein paar Schritte weiter gehen könnte. Die Vorschläge betreffen etwa die Reduzierung der finanziellen Belastungen für Medienunternehmen sowie eine möglichst frühzeitige Durchsetzung des Rechtsschutzes gemäss Artikel 59 ZPO.»
Was könnte man tun?
Vinzenz Wyss: «Der Tenor ist unüberhörbar, dass die Branche selbst ausserrechtliche Wege suchen müsse, um dem Problem zu begegnen. Genannt werden etwa der Zugriff auf gemeinsam genutzte Rechtsressourcen, einen Wissens- und Erfahrungsaustausch, ein Fonds für betroffene Redaktionen wie auch die Rolle des Presserats, der helfen könnte, nach SLAPP riechende Praktiken anzuprangern.»