Content:

Montag
04.05.2020

Medien / Publizistik

Mehdi Atmani: «Es ist schade, dass RTS und SRF völlig unabhängig voneinander arbeiten und nicht kommuniziert haben» (Bild: zVg).

Mehdi Atmani: «Es ist schade, dass RTS und SRF völlig unabhängig voneinander arbeiten und nicht kommuniziert haben» (Bild: zVg).

Der freischaffende Journalist Mehdi Atmani hat bei den Swiss Press Awards mit der Recherche-Videoserie «La Suisse sous couverture» gleich zweimal abgeräumt: In der Kategorie Video hat er zusammen mit Alexandre Bugnon den ersten Preis gewonnen - und er wurde zum «Journalist of the Year» gekürt.

Im Gespräch mit dem Klein Report erzählt er, warum er seine eigene redaktionelle Agentur gründete, wie er zehn Jahre lang zur Cryptoaffäre recherchiert hat und warum er für mehr Zusammenarbeit im Journalismus plädiert.

Herr Atmani, Sie sind freischaffender Journalist, erst 36 Jahre alt und schon «Swiss Press Journalist of the Year». Können Sie kurz Ihren Werdegang skizzieren?
Mehdi Atmani: «Meinen Einstieg in den Journalismus hatte ich 2004 bei '24 heures', wo ich vier Jahre gearbeitet habe. Dazu verfolgte ich parallel mein Studium in Geschichte, Französisch und Englisch an der Uni Lausanne, das ich 2008 mit einem Master der University of Glasgow abschloss. Nach einem Jahr bei 'L'Hebdo' wechselte ich 2009 zu 'Le Temps', wo ich mich auf die digitale Gesellschaft spezialisiert habe. Ende 2015 habe ich dann meine Stelle bei 'Le Temps' gekündigt, um frei zu sein und meinem Unternehmergeist nachzugehen.»

Was meinen Sie mit «frei sein»?
Atmani: «Ich habe meinen Beruf bereits früh gewählt, weil ich gerne mit anderen Welten und anderen Realitäten konfrontiert werde. Im Journalismus gefällt mir dieser permanente Wandel, die Zusammenarbeit mit anderen Berufen und die Diskussion. Die Unabhängigkeit erlaubt es mir nun, all das auszudrücken, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen. Kurz gesagt: So kann ich, mit wem und wann immer ich will, auf jedem beliebigen Medium arbeiten. So habe ich ein Jahr lang mit den investigativen Journalisten François Pilet und Marie Maurisse zusammengearbeitet, bevor ich 2017 meine eigene Agentur flypaper.ch gegründet habe.»

Was machen Sie bei flypaper.ch und wie kam es dazu, dass Sie die Videoserie «La Suisse sous couverture» für das RTS produziert haben?
Atmani: «Flypaper.ch liefert verschiedene Beiträge für Medien, so zum Beispiel für 'Le Temps', die 'Handelszeitung' oder eben auch für das RTS. 2017 kreuzten sich meine Wege mit Alexandre Bugnon und Delphine Schnydrig von der Lausanner Agentur Société-écran, die seit fünfzehn Jahren eng mit RTS zusammenarbeitet. Sie brauchten meine Fähigkeiten und ich brauchte ihre. Im Dezember 2017 haben wir dann unser erstes gemeinsames Projekt lanciert: die Videoserie, die jetzt mit dem Swiss Press Award Video ausgezeichnet wurde.»

Für diese Videoserie, die unter anderem die Cryptoaffäre aufrollt, haben Sie zehn Jahre lang recherchiert. Wie sind Sie da vorgegangen?
Atmani: «Zuerst möchte ich klarstellen, dass wir für die gesamte Videoserie ausgezeichnet worden sind. Die Cryptoaffäre ist nur eine von fünf Episoden à 15 Minuten. Auf jeden Fall habe ich mich 2010 als 'Le Temps'-Journalist das erste Mal für die Crypto AG interessiert. Damals haben wir mit Wikileaks-Dokumenten gearbeitet, die unter anderem Schweizer Firmen belasteten, digitale Werkzeuge mit doppeltem Verwendungszweck ins Ausland zu liefern. Bei weiteren Recherchen bin ich dann auf den Fall Crypto gestossen und wollte mehr darüber wissen. In den folgenden Jahren habe ich mich eben auf Themen im Zusammenhang mit Spionage, Informationssicherheit oder Big Data spezialisiert und wollte sie in der Öffentlichkeit bekannter machen. Und dann habe ich eben im Dezember 2017 zusammen mit meinen Partnern eine Videoserie für das RTS vorgeschlagen.

Die fünf Episoden der Videoserie wurden am 18. November 2019 auf der RTS-Webseite aufgeschaltet - darunter auch diejenige zu Crypto. Was war Ihre Reaktion auf die Recherchen von SRF, die im darauffolgenden Februar veröffentlicht wurden?
Atmani: «Drei Wochen vor der Sendung erhielt ich einen Anruf von Nicole Vögele, einer der Journalistinnen der `Rundschau`, die hinter den Recherchen steckte. Sie teilte mir mit, dass sie seit mehreren Monaten an diesem Fall gearbeitet hätten und dass sie Antworten auf alle Fragen finden würden, die in den letzten Jahren im Fall Crypto aufgekommen sind. Ich fand das grossartig. Und die öffentliche Debatte hat dann stattgefunden. Es war reiner Zufall. Auf beiden Seiten wussten wir nicht, dass wir an der gleichen Sache arbeiten.»

Warum haben sich SRF und RTS bei der Recherche nicht koordiniert?
Atmani: «Das müssen Sie die Sender fragen. Unsere Videoserie wurde durch die SRG finanziert. Das SRF war also seit Beginn des Projekts im Jahr 2017 darüber informiert. Dies zeigt, dass RTS und SRF völlig unabhängig voneinander arbeiten und nicht kommuniziert haben. Das ist schade. Als freischaffender Journalist habe ich zum Beispiel mit deutschsprachigen und Tessiner Journalisten gearbeitet, Sprach- und Mediengrenzen interessieren mich nicht. Eine verstärkte Zusammenarbeit ermöglicht es den Schweizer Regionen sich besser kennenzulernen und hilft den Journalisten effektiver zu arbeiten. Das ist viel vorteilhafter für die Qualität der Informationen, als wenn jeder für sich selbst arbeitet.»

Sie sagten, dass die Cryptoleaks wohl nur die Spitze des Eisbergs seien. Was meinen Sie damit?
Atmani: «Das bedeutet, dass noch mehr Geschichten kommen werden. Alle journalistischen Beiträge weisen Lücken auf. Unsere Videoserie hat einige geöffnet. Aber es bleiben Fragen offen. Die Arbeit geht weiter.»