Liegt das bis vor Kurzem gerichtlich blockierte Buch von Michèle Binswanger über Jolanda Spiess-Hegglin bereits druckreif beim Verlag? Oder aber ist es noch gar nicht fertig geschrieben? Und was heisst überhaupt «fertig» bei einem Buchmanuskript?
Da gingen die Aussagen und Mutmassungen im letzten Oktober auseinander. Tamedia hatte behauptet, das Buch sei noch nicht fertiggestellt. Die gerichtliche Eingabe von Spiess-Hegglin dagegen zeigte, dass ein Manuskript an Verlage geschickt worden sei – so jedenfalls stellte es Pascal Hollenstein in einem Online-Artikel dar, der am 28. Oktober 2021 über die CH-Media-Zeitungen online ging.
Anlass für Hollensteins Artikel war die vorsorgliche Massnahme, die das Bundesgericht im letzten Herbst wieder in Kraft setzte, nachdem sie von der Vorinstanz aufgehoben worden war. Damit blieb der Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger eine Publikation ihres Buchs über die «Vorkommnisse» an der Zuger Landammannfeier von 2014 weiterhin verwehrt.
Bei der noch ausstehenden definitiven Beurteilung des Falls durch die Gerichte könne auch eine Rolle spielen, «wie sich Binswanger und ihr Chef, Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser, im bisherigen Verfahren verhalten haben», heisst es in dem von Pascal Hollenstein gezeichneten Artikel weiter.
Und: Es stehe der «Verdacht im Raum», dass sie «den Gerichten als auch der Öffentlichkeit gegenüber unwahre Angaben» gemacht hätten.
Konkret geht es dabei darum, ob das vorläufig blockierte Buch schon fertig geschrieben ist. Binswanger und Rutishauser würden dies bestreiten. Gemäss Zitat aus einer Stellungnahme des Anwalts von Michèle Binswanger vor Gericht wurde das Projekt längere Zeit «auf Eis» gelegt.
Die Anwältin von Spiess-Hegglin habe nun aber dem Gericht Mails von Verlagen vorgelegt, die bereits mehrfach ein Manuskript zugeschickt erhalten hätten. Die «Beweisstücke» im Verfahren würden also nahelegen – so Hollenstein –, dass Tamedia-Mitarbeitende «Falschbehauptungen» aufgestellt hätten.
In den Print-Medien von CH Media erschien am nächsten Tag eine gekürzte Version.
Dass ein Medienhaus an den Presserat gelangt, kommt nur alle paar Schaltjahre vor. Zum Beispiel im Fall Binswanger/Spiess-Hegglin.
Tamedia legte Beschwerde ein. In dem Hollenstein-Artikel werde dem Verdacht der Falschaussage «ein zentraler Platz» eingeräumt. Im Online-Beitrag sei die grafische Gestaltung mit Porträts und Zitaten so gewählt, dass eine «eigentliche Prangerwirkung gegen Michèle Binswanger und Arthur Rutishauser erzielt wird».
Man hätte angehört werden müssen, was aber nicht geschehen sei. Dass Hollenstein sich in Twitter-Beiträgen darauf berufe, seine Informationen stammten aus Dokumenten zu einem Gerichtsverfahren, im Rahmen dessen sich Binswangers Anwalt zum Vorwurf geäussert habe, könne nicht als Anhörung im Sinne des Journalistenkodex gelten, argumentierte Tamedia.
Für CH Media wiederum handelte es sich nicht um einen schweren Vorwurf, da lediglich die «Frage» bezüglich «Falschbehauptungen im Rahmen des Gerichtsprozesses» in den Raum gestellt worden sei.
Gleichzeitig sieht CH Media die Anhörungspflicht als erfüllt an, wie aus der Stellungnahme des Presserats weiter hervorgeht. Begründung: Tamedia habe sich zum Sachverhalt im gerichtlichen Verfahren äussern können und dies sei im Artikel zitiert worden.
«Vor Gericht die Unwahrheit zu sagen ist im Moral- und Rechtsverständnis einer durchschnittlichen Leserin oder eines Lesers zweifellos ein gravierendes Fehlverhalten», mahnt der Presserat.
Daran ändert auch nichts, dass lediglich gesagt wird, dass der «Verdacht» dazu im Raum stehe. Und: «Dass ein Vorwurf als Frage formuliert wird, relativiert die Schwere nicht und entbindet daher auch nicht von der Pflicht zur Anhörung.»
Damit blieb dem Presserat noch zu klären, ob die Beschwerdeführerin angehört wurde oder nicht. Und auch hier ist der Entscheid kurz und klar: «Zitate ersetzen keine Anhörung». Eine Äusserung an anderem Ort – wie hier im Rahmen einer Eingabe an ein Gericht respektive in einer Antwort auf eine solche – könne nicht als Stellungnahme zu einem schweren Vorwurf in einem Medienbeitrag «interpretiert» werden.
Pascal Hollenstein hat gegen den Journalistenkodex verstossen.