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Freitag
20.05.2022

Medien / Publizistik

«Es war immer mein Antrieb, gesellschaftlich relevante Themen aufzuspüren und mit Beharrlichkeit die Informationen einzufordern, auf welche die Öffentlichkeit ein Anrecht hat.»...            (Bild: ZvG)

«Es war immer mein Antrieb, gesellschaftlich relevante Themen aufzuspüren und mit Beharrlichkeit die Informationen einzufordern, auf welche die Öffentlichkeit ein Anrecht hat.»... (Bild: ZvG)

Der von vielen Obrigkeiten gefürchtete Martin Stoll hat sich nach 32 Jahren entschlossen, seine Karriere als Investigativjournalist bei Tamedia zu beenden. Er will in Zukunft in einem 80-Prozent-Pensum für den Verein Öffentlichkeitsgesetz.ch tätig sein, den er selbst aufgebaut hat.

Der Klein Report hat Martin Stoll ein paar Fragen über seine vergangenen Arbeiten sowie die aktuelle Situation in der Entwicklung der Medien gestellt.

Nach 32 Jahren kennen Sie die Zürcher Werdstrasse wie Ihre eigene Westentasche. Nun gehen Sie. Wie ist es für Sie, sich von Tamedia zu verabschieden?
Martin Stoll: «Dieser Entscheid ist mir nicht leichtgefallen, das war ein längerer Prozess. In all den Jahren habe ich bei Tamedia viele innovative Köpfe und unabhängige Geister erleben dürfen, die nur eines im Kopf hatten: guten Journalismus zu betreiben. Von der journalistischen Wochen- und Tagesarbeit werde ich mich zwar verabschieden, nicht aber vom Journalismus. Es war immer mein Antrieb, gesellschaftlich relevante Themen aufzuspüren und mit Beharrlichkeit die Informationen einzufordern, auf welche die Öffentlichkeit ein Anrecht hat. Das wird bleiben. Im Rahmen des Projekts Öffentlichkeitsgesetz.ch werden wir diese Kernbotschaft des Journalismus noch intensiver an Redaktionen, Medienschaffende und die Verwaltung weitergeben können. Zudem habe ich mir vorgenommen, unabhängig von der journalistischen Entwicklungsarbeit, ausgewählte Rechercheprojekte zu realisieren.»

Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?
Stoll: «Der Vorstand von Öffentlichkeitsgesetz.ch hatte schon länger versucht, mich für eine Aufstockung meines 50-Prozent-Pensums zu überreden. Ein Projekt des Vereins, deren Details wir noch dieses Jahr kommunizieren werden, erfordert jetzt meine volle Aufmerksamkeit. Es war die Chance, meinem Herzensprojekt Öffentlichkeitsgesetz.ch mehr Zeit widmen zu können, auch weil Stiftungen die Absicht bekundet haben, uns zu unterstützen.»

Worum geht es?
Stoll: «Wir werden einen zusätzlichen Fokus auf Lokal- und Regionaljournalismus und die Entwicklung der Öffentlichkeitsgesetze in den Kantonen und Gemeinden der Schweiz legen. Im Moment stecken wir hier in einem Vorprojekt. Ganz konkret wirds dann im nächsten Jahr.»

Was waren in den letzten drei Dekaden in Ihrem konkreten Berufsalltag die prägendsten Veränderungen im Hause Tamedia?
Stoll: «Es waren technologische Entwicklungen, die auch uns Medienschaffende ständig vorangetrieben und herausgefordert haben. Vor dreissig Jahren arbeiteten wir in einem komplett anderen Umfeld. Unsere wichtigsten Werkzeuge waren Telefon- und Adressbücher. Im Reporterteam des ‘Tages-Anzeigers’ schrieben wir unsere Artikel auf einem ‘Olivetti M10’. Das Schreibgerät hatte einen winzigen Bildschirm und ist ständig abgestürzt. Unser Gedächtnis waren emsige Archivare, die jeden Tag Zeitungen zerschnippelten, die Artikel in Couverts ablegten und uns auf Anfrage Papierdossiers zusammenstellten. In einem Raum bei der ‘SonntagsZeitung’ stand der wohl erste Internetzugang des Verlags, über den wir gegen gutes Geld die wenigen damals online verfügbaren Informationen abgerufen haben.»

Wie beeinflusste der technologische Fortschritt die Publizistik?
Stoll: «Irgendwann merkten wir, dass sich aus den zunehmend verfügbaren Daten spannende Geschichten machen lassen. Barnaby Skinner und ich schrieben für die ‘SonntagsZeitung’ ein erstes Datenjournalismus-Konzept. Heute arbeiten Medienschaffende intensiv mit im Übermass vorhandenen Online-Quellen. Das ist eine phantastische Erweiterung unseres Werkzeugkastens. Der Journalismus ist dadurch vielfältiger und auch besser geworden.»

Wie hat sich die Arbeitsprozesse im Haus Tamedia in dieser Zeit verändert?
Stoll: «Ich erinnere mich an die samstäglichen Redaktionskonferenzen im engen Büro von ‘SonntagsZeitungs’-Chefredaktor Ueli Haldimann. Die nächste Frontgeschichte war kein einsamer Chefentscheid, daran beteiligt war die ganze Redaktion. Publizistik funktionierte damals recht basisdemokratisch. Das ist heute anders. Es ist ein Glück, dass sich Tamedia immer wieder von journalistischen Projekten im Ausland inspirieren liess. Die Idee von Recherchepools waren dort teils recht weit gediehen. Ich schrieb für die ‘SonntagsZeitung’ ein erstes Konzept für ein Recherchedesk. Es fiel im Verlag auf fruchtbaren Boden. Ich brachte die Idee für Öffentlichkeitsgesetz.ch aus einer internationalen Journalismuskonferenz in Toronto mit nach Hause. Auch hier erkannte Tamedia das Potenzial der Idee. Das Medienhaus gehört bis heute zu unseren Förderern. Im Abstimmungskampf zum Medienpaket standen die grossen Verlagshäuser in der Kritik. Meine Erfahrung zeigt, dass Tamedia bei der Entwicklung der journalistischen Idee in den letzten Jahrzehnten eine wichtige und gute Rolle gespielt hat. Wegen der fortschreitenden Medienkonzentration haben die grossen Medienhäuser hier eine bedeutsame Aufgabe.»

Was war Ihre kniffligste Recherche-Geschichte?
Stoll: «Nicht einfach war die Geschichte zum damaligen Armeechef Roland Nef. 2008 hielten wir ein dünnes Bündel mit Einvernahmeprotokolle der Stadtpolizei Zürich in den Händen und wussten: Das wird heikel. Die Polizeirapporte gaben einen Einblick ins Privatleben eines Mannes, der in seelischen Nöten war. Es waren drastische Schilderungen, die in einem krassen Widerspruch zum Bild standen, das man sich vom höchsten Militär der Schweiz machte. In unserer Recherche traten wir an gegen den fast idealen Armeechef. In den Wochen, in denen wir die Affäre Nef recherchierten, gingen wir jedem Detail nach, zogen wir an jedem Faden, den wir sahen. Wir setzten ein Mosaiksteinchen neben das andere, bis wir ein einigermassen klares Bild hatten. Dann stellte sich die Frage: Wie gehen wir mit diesen Informationen um. Uns war klar: Auch ein Armeechef hat eine Privatsphäre. Wir bemühten uns, diese so weit wie nur möglich zu schützen. Das war mir persönlich sehr wichtig, und ich denke, das ist uns auch gelungen.»

Sie recherchierten immer wieder auch im Geheimdienst-Milieu. War das nicht heikel?
Stoll: «Manchmal war es ein wenig wie im Film. Heimliche Treffen liefen nach einem minutiös festgelegten Drehbuch ab. Beim Gang zum vereinbarten Ort wurde ich observiert, niemand sollte mir folgen. Manchmal lagen Unterlagen in einem anonymen Ablagefach. Ein anderes Mal war es ein langer Spaziergang durch einen Wald oder eine stundenlange Autofahrt. Tarnnamen wurden vereinbart und Kommunikationskanäle festgelegt. Meine Zuträger waren zu Recht vorsichtig. Sie hätten Job oder Rente verloren, wären die Kontakte zu mir bekannt geworden.»

Was war die Ausbeute?
Stoll: «Die Südafrika-Affäre des damaligen Schweizer Auslandnachrichtendienstes kam so ans Licht. Hinter dem Rücken der Schweizer Diplomatie, welche sich für eine Beendigung des Apartheid-Regimes einsetzte, pflegten Schweizer Militärs fragwürdige Beziehungen zu Geheimdiensten am Kap. Es wurde bekannt, dass ein Pilot des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) vom Schweizer Nachrichtendienst in Angola als Spion angeheuert worden war. Oder dann konnte bestätigt werden, dass der Nachrichtendienst 1982 bei der Besetzung der polnischen Botschaft in Bern Spionageakten in einer völkerrechtlich illegalen Aktion entwendet hatte. Das waren politisch hochbrisante Vorgänge, die zeigen, dass der damalige Nachrichtendienst fast keine Tabus kannte. In jüngeren Jahren wurde mir geschildert, wie ein Informatiker des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) riesige Mengen vertraulicher und geheimer Informationen kopiert hatte. Erst in letzter Minute wurde der Mann, der sich gemobbt fühlte und die Daten verkaufen wollte, nach dem Tipp einer Grossbank gestoppt.»

Sie arbeiten neu in einem 80-Prozent-Pensum für den Verein Öffentlichkeitsgesetz.ch, den Sie mit aufgebaut haben. Was wird Ihre Aufgabe konkret sein?
Stoll: «Ich werde die Idee, mit einer Handvoll freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kontinuierlich und hartnäckig weitertreiben – so wie ich es aus dem Recherche-Journalismus gewohnt bin. In den letzten zehn Jahren haben wir auf Bundesebene viel erreicht. Wir werden neu auch ins Regionale und Lokale vorstossen. Das wird spannend. Wir werden uns intensiv auch mit Verwaltungen austauschen. Wir werden Medienschaffende in einem neuen Online-Format schulen und sie bei ihrer Arbeit coachen. Und wir werden noch viel mehr tun, um Medienschaffenden, aber auch Akteuren der Zivilgesellschaft den Zugang zu den Informationen der Verwaltung zu erleichtern.»

Wie kooperativ nehmen Sie die Behörden wahr?
Stoll: «Da gibt es grosse Unterschiede. In einigen Kantonen oder Verwaltungseinheiten entwickelt sich Verwaltungstransparenz nur zäh. Es fehlt an Grundlegendem: Dem Verständnis dafür, was eine moderne Verwaltungsführung sein kann, dem Willen zu Transparent oder an Wissen über die geltenden Transparenzgesetze.»

Wo sehen Sie die markantesten Gefährdungen für die freie Berichterstattung in der Schweiz?
Stoll: «Corona, aber auch die aktuellen Debatten um medienfeindliche Verschärfungen in der Zivilprozessordnung oder Diskussionen zur Gebührenbefreiung beim Öffentlichkeitsgesetz haben gezeigt: Bei manchen Politikerinnen und Politikern und auch in der Bevölkerung besteht ein teils ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Medien. Das kann dazu führen, dass Medienschaffende angefeindet werden oder dass gesetzliche Regelungen die Informationsfreiheit einschränken. Es ist deshalb zentral, dass Medienschaffende Tag für Tag zeigen, wie wichtig Journalismus für uns alle ist. Es ist unsere Aufgabe, relevante Inhalte zu schaffen und wichtige Diskussionen aufzugleisen. Können wir dies einlösen, müssen wir uns keine Sorgen um unsere Zukunft machen.»

Martin Stoll arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Journalist, davon 32 Jahre für verschiedene Tamedia-Titel («Tages-Anzeiger», «Facts», «SonntagsZeitung»). Er ist Initiant und inzwischen hauptberuflich Geschäftsführer der Transparenzplattform Öffentlichkeitsgesetz.ch. Daneben bildet Stoll als Recherchetrainer Medienschaffende aus. Er engagiert sich auch als Vorstandsmitglied des Schweizer Recherchenetzwerks investigativ.ch für nachhaltigen Journalismus in der Schweiz.

Mit verschiedenen Recherchen hat Martin Stoll parlamentarische Untersuchungen angestossen. So deckte er eine geheime Connection des Schweizer Geheimdienstes zum damaligen Apartheidstaat Südafrika auf und machte ebenfalls im Geheimdienst ein folgenreiches Datenleck bekannt. Er war an Recherchen beteiligt, die den Rücktritt des ehemaligen Armeechefs Roland Nef und des Schweizer Botschafters in den USA, Carlo Jagmetti, zur Folge hatten.

Für seine journalistischen Arbeiten wurde Martin Stoll wiederholt ausgezeichnet, unter anderem mit dem Zürcher Journalistenpreis. Seine Aktivitäten zur Entwicklung der Verwaltungstransparenz in der Schweiz ehrte das Branchenmagazin «Schweizer Journalist» 2019 mit einem Sonderpreis.