In der Corona-Berichterstattung haben sich CH-Media-Zeitungen unkritisch auf eine teils irreführende Medienmitteilung des Universitätsspitals Zürich (USZ) gestützt. Und daraus eine reisserische Headline fabriziert. In beiden Punkten pfeift der Presserat sie nun zurück.
«‚Kompass‘ für den Krankheitsverlauf bei schwer erkrankten Covid-19-Patienten» war eine Medienmitteilung des USZ vom 10. Juli 2020 überschrieben.
Im Lead war zu lesen: «Rund 10 Prozent der Covid-19-Patienten erkranken lebensgefährlich und benötigen intensivmedizinische Behandlung. Eine neue Studie liefert Ärztinnen und Ärzten nun wichtige Informationen zum individuellen Risiko und für die Therapie schwer erkrankter Patientinnen und Patienten schon bei deren Aufnahme auf der Intensivstation.»
Daraus fabriziert watson.ch tags darauf die Schlagzeile: «10 Prozent der bestätigten Fälle haben schweren Verlauf». Und das «St. Galler Tagblatt», die «Aargauer Zeitung» und Pilatus Today titelten sogar: «10 Prozent aller Covid-19-Patienten schweben in Lebensgefahr».
Zurückhaltender machte die «NZZ am Sonntag» auf: «‚Warum bin ich im Spital? Ich bin nicht krank!‘ – Die Geschichte eines Covid-19-Patienten, der nur knapp überlebt hat».
Bei einem schweren Krankheitsverlauf von «Lebensgefahr» zu sprechen, war für einen Leser der «Aargauer Zeitung» übertrieben. Er beschwerte sich beim Presserat, der Titel sei reisserisch und diene nur dazu, «Angst und Schrecken zu verbreiten».
Einem anderen Leser fiel auf, dass mit der zitierten Zahl etwas nicht stimmen konnte. Die Schlagzeilen würden sich lediglich auf den ersten Satz der USZ-Medienmitteilung beziehen, «und zwar so, als sei diese Zahl von 10 Prozent das Ergebnis der Studie».
Dies sei ein Irrtum, da es in der Studie darum gehe, den Krankheitsverlauf von 639 bereits kritisch kranken Patienten auszuwerten. Es gehe nicht darum, wie hoch der Anteil der lebensgefährlich Erkrankten an der Gesamtheit der bestätigten Fälle sei. Die Redaktionen hätten nur den ersten Satz gelesen und daraus falsche Schlüsse gezogen, beschwerte sich der Leser vor dem Presserat.
Gemäss Berufskodex sind die Redaktionen verpflichtet, die Quelle einer Information und ihre Glaubwürdigkeit kritisch zu überprüfen.
CH Media argumentierte gegenüber dem Presserat, dass es das «übliche und angemessene Mass journalistischer Sorgfaltspflicht im Berufsalltag» übersteige, an der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit einer Medienmitteilung eines schweizerischen Universitätsspitals zu zweifeln.
«Dem ist zu widersprechen», stellt der Presserat klar. «Zum einen darf es angesichts der Brisanz und der Wichtigkeit des Themas, auch der Unklarheit der Meldung nicht bei einem ‚ersten Blick‘ bleiben, bevor man dazu publiziert.»
Ausserdem gehe es bei schlechten Prognosen für Covid-Patienten nicht um ein «übliches» Thema. Hier hätte die Redaktion besonders kritisch sein sollen. Daher haben die CH-Media-Titel die Sorgfaltspflicht verletzt.
Ähnlich rügte der Presserat auch watson.ch dafür, wie leichtgläubig die Redaktion mit der Quelle umgegangen sei.
Die «NZZ am Sonntag» wiederum gab an, dass sie sich bei der Medienstelle des USZ den zitierten Inhalt bestätigen liess. Für den Presserat war das sorgfältig genug, weil dieser Passus nur am Rande der Reportage über einen Covid-19-Patienten erschien.
Und auch dem Vorwurf, der Titel «10 Prozent aller Covid-19- Patienten schweben in Lebensgefahr», sei reisserisch, pflichtet der Presserat bei. «Die Formulierung im Indikativ aktiv behauptet einen Fakt über alle Covid-19-Patienten. In der Verkürzung des Titels entsteht eine sehr alarmierende Aussage.»
Diese Zuspitzung geht dem Presserat zu weit, womit die CH-Media-Zeitungen auch gegen die Wahrheitspflicht verstossen haben.
Bleibt noch der Zahlensalat. Alle kritisierten Redaktionen haben die «10 Prozent»-Aussage fälschlicherweise als ein Ergebnis der Zürcher Studie gewertet. Sie verteidigten sich damit, dass dies in der Medienmitteilung unklar formuliert gewesen sei.
Dem ist auch der Presserat gefolgt: Angesichts der «irreführenden Quelle» könne man den Redaktionen dafür «knapp» keinen Verstoss anhängen.