Mit vermutlich übertriebenen Angaben zum Zulauf einer Demo in Warschau hat die «Neue Zürcher Zeitung» gegen den Journalistenkodex verstossen. Dabei stützte sich die Redaktion auf eine Agenturmeldung der dpa. In den übrigen Punkten wies der Presserat eine Beschwerde ab.
«Kaczynski wird die rechten Geister nicht mehr los», titelte die «Neue Zürcher Zeitung» am 13. November 2017. Der Untertitel des Artikels von Paul Flückiger lautete ursprünglich: «Zehntausende von Neonazis sind am Nationalfeiertag unbehelligt durch Warschau gelaufen». Kurze Zeit darauf änderte die NZZ den Lead auf nur noch «Tausende von Neonazis».
Im Artikel ging es um die politischen Konsequenzen einer Demonstration zum polnischen Nationalfeiertag. Die Demo sei organisiert worden von der «neofaschistischen Organisation Nationalradikales Lager». Der NZZ-Bericht wies weiter darauf hin, dass der polnische Innenminister von den «bedenklichen Tendenzen», die da sichtbar geworden seien, nichts gesehen haben wolle. Andere Exponenten der rechtsnationalen Regierung sähen das allerdings anders.
Die NZZ mache aus «einer Schneeflocke eine Lawine», beschwerte sich ein Leser beim Presserat. Die Demonstranten seien unbescholtene Bürger gewesen, es seien höchstens hundert Personen gewesen, die man als Neonazis bezeichnen könne. Die NZZ habe ihre Quellen nicht sauber geprüft, kritisierte der Beschwerdeführer.
Richtlinie 1.1 ist eine Präzisierung der «Wahrheitspflicht» des berufsethischen Kodex. Unter dem Titel «Wahrheitssuche» verlangt diese Richtlinie «die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten».
Die «zehntausende Neonazis» im kritisierten Lead wie auch die «60 000 Nationalisten und Rechtsradikalen» und der «Aufmarsch der Rechtsextremen...einer der bisher grössten Europas» in den Bildlegenden sind aus Sicht des Presserats alles Behauptungen, die sich durch «die Beachtung der verfügbaren und zugänglichen Daten in dieser Form nicht belegen liessen».
Alle drei Behauptungen seien dem Artikel von der Redaktion in Zürich beigefügt worden, steht in der Stellungnahme weiter. Die Redaktion wiederum stützte sich dabei auf eine Agenturmeldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Diese sprach allerdings von «zehntausenden Nationalisten und Rechtsradikalen».
«Das deckt sich mit keiner der drei Behauptungen genau», so der Rat. Die NZZ räumte das auch ein, die Zeitung reduzierte die Zahl der «Neonazis» auf «tausende» und änderte die anderen Behauptungen nach zwölf Stunden («60 000 Personen») respektive liess sie ganz weg («einer der grössten Aufmärsche Europas»).
Dass der übrige Bericht die Verhältnisse in Warschau genau analysiere und keine falschen Angaben enthalte, «ändert aber nichts daran, dass im Lead und in den Bildlegenden vermutlich übertriebene, so jedenfalls nicht belegbare Fakten publiziert wurden». Dadurch hat die NZZ die Wahrheitspflicht verletzt.
Gemäss der Presserats-Praxis ist die Redaktion aber nicht verpflichtet, die Meldungen einer anerkannten Agentur inhaltlich nachzurecherchieren. Die Richtlinie 3.1, die die Überprüfung der Quellen verlangt, hat die NZZ daher nicht verletzt. Auch der Berichtigungspflicht kam die Zeitung nach.