Viktor Schlumpf, der frühere Chefredaktor des «Tages-Anzeigers», ist tot. Er ist beim Joggen im Wald unerwartet einem Herzversagen erlegen, heisst es in der Dienstagsausgabe des Zeitung. Ein Nachruf von Roger Blum, der von 1985 bis 1989 als Mitglied der Chefredaktion beim «Tages-Anzeiger» arbeitete.
Viktor Schlumpf stand für den linksliberalen Kurs des «Tages-Anzeigers». Er selber war ein sozial aufgeschlossener Bürgerlicher, der beispielsweise keinen Zweifel liess an seinem Bekenntnis zur bewaffneten Landesverteidigung. Aber er anerkannte die Anliegen der Friedensbewegung und unterstützte ökologische Ideen. Diese Positionen waren in der Redaktion breit abgestützt, nicht aber in der Tamedia-Geschäftsleitung unter der Leitung von Heinrich Hächler.
Ein Beispiel: Die Geschäftsleitung wollte einen wirtschafts- und autofreundlicheren Kurs. Sie lud deshalb einmal Vertreter der SBB, der Autoverbände und anderer Verkehrsorganisationen zu einem Hearing ein mit der Absicht, den Kurs der Redaktion zu korrigieren. Denn die Geschäftsleitungsmitglieder beklagten sich, dass sie mit ihren Karossen in der Stadt Zürich vielfach behindert würden. Als sie dann im Hearing die Verbandsvertreter fragten, wie sie denn die Arbeit der Redaktion beurteilten, waren sie sehr überrascht, dass nur Lob kam für die verkehrspolitische Arbeit des Stadt-, Kantons- und Inlandressorts. Auch von denen, die die Position zugunsten des öffentlichen Verkehrs nicht unbedingt teilten. Bei einem anderen Treffen brachten auch die Autohändler Klagen gegen die Redaktion vor. Viktor Schlumpf hörte sie alle an, würdigte die Argumente der Autohändler, erklärte aber, die Redaktion würde bei ihrem autokritischen Kurs bleiben.
Er war unerschütterlich. Er verteidigte die Redaktion gegen alle Anfeindungen, wenn sie in der Sache unbegründet waren, ob sie nun von der Geschäftsleitung oder von aussen kamen. Er weigerte sich, Redaktionsmitglieder zu versetzen, die vom Management kritisiert wurden, weil sie einen ökologischen, wirtschaftskritischen Kurs vertraten. Und er weigerte sich, in der journalistischen Praxis Kompromisse einzugehen. So gab er 1988 letztlich das entscheidende grüne Licht für die Publikation der investigativen Recherche zur Libanon-Connection, die in die Kopp-Affäre mündete.
Das ging so: Die drei Journalisten Hansjörg Utz, Rolf Wespe und Beat Allenbach hatten herausgefunden, dass das Geldwäscher-Verfahren gegen die Brüder Magarian, die in Haft waren, stockte, und dass möglicherweise auch die Firma Shakarchi mit drin hing, bei der Hans W. Kopp, der Gatte von Bundesrätin Elisabeth Kopp, Vizepräsident des Verwaltungsrates war. In der letzten Oktoberwoche des Jahres 1988 hielten sie ihre Geschichte noch zurück, weil sie befürchteten, das dann die Zeitungsproduktion leitende Chefredaktionsmitglied würde die Publikation als zu heikel verhindern.
Am 3. November 1988, als ein anderes Mitglied der Chefredaktion Wochendienst hatte, präsentierten sie ihre Recherche und erhielten sofort die Unterstützung dieses Chefs. Dieser wanderte mit dem Text zu Chefredaktor Viktor Schlumpf, die beiden korrigierten einen einzigen Satz und beschlossen: «Wir publizieren.» Damit nahm die Geschichte ihren Lauf, die schliesslich in den Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp und in die Fichen-Affäre mündete. Es war ein Bekenntnis zur Kritik- und Kontrollfunktion der Medien und zum investigativen Journalismus.
Die Widerborstigkeit Viktor Schlumpfs, der unbeugsam blieb, wenn er Leute opfern sollte, führte dann umgekehrt 1991 zu seiner Entlassung. Weil er einen Inlandkollegen nicht versetzen wollte, liess ihn Direktionspräsident Heinrich Hächler fallen. Die Reaktion in der Öffentlichkeit war heftig: 177 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur, darunter auch die früheren Chefredaktoren Peter Studer und Walter Stutzer sowie der langjährige Inlandpublizist Hans Tschäni, unterzeichneten ein ganzseitiges Inserat in der «Neuen Zürcher Zeitung», in dem sie die Verlegerfamilie Coninx an ihre Verantwortung erinnerten und die Absetzung von Viktor Schlumpf als Schaden für die Pressefreiheit taxierten.
Das Echo war gross. Die Verlegerfamilie reagierte alarmiert. Kurz darauf wurde Direktionspräsident Heinrich Hächler abgelöst.
Nach einer Übergangszeit berief Verwaltungsratspräsident Hans Heinrich Coninx als neuen CEO Michel Favre und als neuen Chefredaktor Roger de Weck. Viktor Schlumpf kehrte zwar nicht zur Zeitung zurück, aber er hatte durch seine Widerborstigkeit den Weg gebahnt zu einer Rückbesinnung der Herausgeber auf ihre ursprüngliche publizistische Linie.