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Mittwoch
12.10.2022

Medien / Publizistik

«Megaphon» hat die kritisierte Karikatur rasch wieder gelöscht – es ist «20 Minuten», wo die Köpfungsszene (mit verpixeltem Gesicht) bis heute zu sehen ist. (Screenshot 20min.ch)

«Megaphon» hat die kritisierte Karikatur rasch wieder gelöscht – es ist «20 Minuten», wo die Köpfungsszene (mit verpixeltem Gesicht) bis heute zu sehen ist. (Screenshot 20min.ch)

Der Aufschrei war gross, als das «Megafon» der Berner Reitschule im Juli 2021 auf Twitter ein Bild postete, das die «Tagi»-Journalistin Michèle Binswanger im Stil der französischen Revolution mit abgeschlagenem Kopf vor einer gaffenden Menge zeigte. 

Grund war die Aussage Binswangers in einem «SonntagsZeitungs»-Interview mit Ex-«Spiegel»-CR Stefan Aust, der Vorwurf rechts zu sein, könne ein «Todesurteil» sein.

Die Leute vom «Megafon» entfernten das Köpfungsbild bald nach der Veröffentlichung wieder und lieferten eine Art Entschuldigung: «Das Bild weckt Assoziationen zu Angriffen auf Journalist*innen und machte eine Frau zur Zielscheibe. Das kann und darf kein Nebeneffekt satirischer Arbeit sein.»

Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser brandmarkte im «Tages-Anzeiger» die Karikatur ein paar Tage nach deren Erscheinen (und der Entschuldigung) als «Grenzüberschreitung». In einer Zeit, in der Journalistinnen und Journalisten auf der ganzen Welt an Leib und Leben gefährdet seien, sei eine solche Karikatur unverantwortlich. Der Chefredaktor kündigte an, Tamedia reiche Strafanzeige gegen «Megafon» ein.

Es mutet etwas widersprüchlich an, dass die Köpfungsszene ausgerechnet auf einem Medium aus dem TX-Konzern – auf 20min.ch – bis heute zu besichtigen ist, wenn auch mit verpixeltem Gesicht.

Rutishauser fand es «beschämend», dass Jolanda Spiess-Hegglin, «ehemalige Politikerin, Journalistin und selbst ernannte Kämpferin gegen Hass im Netz» den Tweet der Reitschule Bern geliked habe.

Der Kommentar endete mit dem Absatz: «Spiess-Hegglin und Michèle Binswanger sind wegen eines geplanten Buchs seit einem Jahr in einem Rechtsstreit, und offenbar ist Spiess-Hegglin nun jedes Mittel recht, wenn es darum geht, Binswanger zu attackieren. Besorgniserregend ist, dass mittlerweile ein Teil der politischen Linken so intolerant geworden ist, dass sie auf jeglichen Anstand verzichtet und Volksverhetzung betreibt.»

So stand es am 7. Juli 2021 im «Tages-Anzeiger». In der am Vorabend publizierten Online-Version endete der Kommentar mit einem Zusatz, der einen Vergleich mit dem Nationalsozialismus andeutet: «... und wie wir sie eigentlich seit 1945 bei uns überwunden glaubten».

Netzcourage beschwerte sich beim Presserat, dass Rutishauser verschwiegen habe, dass die Karikatur im Tweet «nur einen Teil eines satirischen Gesamtwerkes bildete». Die Verwendung von «überspitzten Sprachbildern» durch Michèle Binswanger werde unterschlagen.

Das Liken des Tweets durch die Geschäftsführerin des Vereins Netzcourage Jolanda Spiess-Hegglin sei nicht auf die bildliche Darstellung einer Hinrichtungsszene mit Michèle Binswangers Kopf bezogen gewesen, sondern auf das Meme als Ganzes.

Zudem erhebe Rutishauser einen schweren Vorwurf gegen Spiess-Hegglin, indem er alle, die den Tweet geliked hätten, «in die Nähe der Hetze von Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern» rücke. Sie hätte daher angehört werden sollen.

Auf Letzteres reagierte der Rechtsdienst der TX Group, dass der Verweis auf 1945 «maximal 1 Stunde und 15 Minuten» online gewesen sei, bevor er (kommentarlos) wieder gelöscht wurde. Dass Rutishauser in seinem Kommentar einem Teil der politischen Linken extreme Intoleranz vorwerfe, sei eine zulässige, von der Meinungsfreiheit gedeckte Wertung.

Dass Rutishauser mit der Nazi-Keule in Richtung Spiess-Hegglin geschwungen haben soll, sieht der Presserat nicht. Der Vorwurf, der Tamedia-CR rücke alle, die den Tweet geliked hätten, in die Gesellschaft von Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern, sei «nicht nachvollziehbar», heisst es in der Stellungnahme. 

Die etwas philologische Begründung: Rutishauser spreche viel allgemeiner von einem «Teil der politischen Linken»; im Satz, der auf 1945 verwies, «war die Netzcourage-Geschäftsführerin eben gar nicht angesprochen».

Daher könne auch von einer Anhörungspflicht keine Rede sein, wies der Presserat die Beschwerde in allen Punkten ab.

Auch gegen «20 Minuten» reichte Jolanda Spiess-Hegglin eine Beschwerde in der gleichen Sache ein. Auch hier konnte der Presserat kein unrühmliches Verhalten der Redaktion feststellen.