Ein Essay von Kaltërina Latifi über Frauenfeindlichkeit, Sexismus und ein patriarchalisches Wertesystem in der albanischen Gemeinschaft hat zwei Beschwerdeführerinnen am 6. November 2024 zu einer Einsprache beim Presserat veranlasst.
Unter dem Titel «Liebe Kosovarinnen, wir müssen uns wehren!» publizierte die Schweizer und kosovo-albanische Literaturwissenschaftlerin am 3. Oktober 2024 online im «Magazin» (Tamedia) ihre Gedanken. Der Obertitel dazu lautet «Essay zu Frauenfeindlichkeit».
Die Kolumnistin schreibt über die Geschlechterverhältnisse und Misogynie in der albanischen Gesellschaft. Es gebe zwar «löbliche Einzelfälle», doch diese würden lediglich ablenken von «einer in unserer Kultur weiterhin unterschwellig praktizierten und zum Teil in verschleierter Form zelebrierten Unterjochung der Frau». In diesem Wertesystem sei der Mann «Dreh- und Angelpunkt». Die Frau hingegen habe keinen Selbstwert.
Diese Struktur beschreibt Kaltërina Latifi als «Leitidee» der albanischen Kultur, wie aus der Stellungnahme des Presserats vom Dienstag hervorgeht. Diese Struktur würde Frauen wie Männer ins Verderben stürzen. Die Autorin stellt das von ihr angeprangerte Wertesystem auch in der Diaspora fest.
Die Schweizer und kosovo-albanische Latifi verweist auf ihre Lebenserfahrungen wie etwa jene ihrer Mutter, die dafür bemitleidet worden sei, drei Töchter, aber keinen Sohn zu haben. Auch thematisiert sie das Tötungsdelikt von Bergdietikon, bei dem ein Albaner nordmazedonischer Herkunft seine ursprünglich aus dem Kosovo stammende Frau ermordete.
Die Literaturwissenschafterin appelliert in ihrem Essay, über traditionalistische, misogyne Verhaltensweisen zu sprechen und «Licht in das Dunkel der Unterdrückungspraktiken zu bringen». Dazu zählt sie unter anderem Ehen, in denen Frauen von ihren Männern und Schwiegereltern ausgebeutet werden, männliche Besitzansprüche oder eine Kindererziehung durch Grosseltern, die traditionell patriarchale Rollenbilder vermitteln.
Betroffene würden in der Regel schweigen und vieles werde in der Gemeinschaft heruntergespielt.
Kaltërina Latifi fragt sich aber auch, ob sie übertreibe? Denn negierende Reaktionen würden sie verunsichern, aber ihre Erfahrungen lehrten sie eines Besseren.
Die Beschwerdeführerinnen kritisieren unter anderem, dass die Autorin an mehreren Stellen Fakten und kommentierende Einschätzungen vermischt habe, was zu einer Verletzung der Richtlinie 2.3 führe. Dies etwa, wenn die Autorin schreibt, dass die kosovo-albanische Frau keinen Selbstwert habe und sich ihr Wert «durch äussere Faktoren innerhalb einer bestimmten soziokulturellen Konstellation – und das immer im Verhältnis zum Mann» ergebe. Diese Aussage würde als allgemeine Tatsache dargestellt, basiere jedoch auf einer subjektiven Meinung, heisst es dazu.
Zudem kritisieren die beiden, dass die Autorin der kosovo-albanischen Kultur eine destruktive Leitidee und Sexismus zuschreibe. Das stelle eine kulturelle Diskriminierung dar.
Diese Kritik teilt der Presserat nicht. Texte, die sich mit einer Gesellschaft auseinandersetzen, seien unabhängig vom Thema immer ein Stück weit generalisierend, heisst es in der Stellungnahme.
Die Beschwerdeführerinnen finden, dass die Verallgemeinerungen weder durch Fakten belegbar seien noch gälten sie universell. Es handle sich um eine einseitige Interpretation, welche die Vielfalt innerhalb der albanischen Kultur nicht widerspiegle.
Die Aussage, dass die «Geburt eines Sohnes für viele weiterhin als das Nonplusultra zivilisatorischer Errungenschaft» gelte, werde ebenfalls als eine allgemeingültige Tatsache präsentiert.
Der Rechtsdienst der Tamedia nahm im Juli 2025 für die Redaktion des «Magazin» Stellung zur Beschwerde, die abzuweisen sei. «Anders als die Beschwerdeführerinnen kritisieren, habe die Autorin keine pauschalen Aussagen gemacht, sondern einen ausführlichen und vertieften Essay verfasst. Sie schreibe in grundlegender Weise über die Frauenfeindlichkeit in der albanischen Kultur, der sie selbst angehöre. Statt undifferenziert zu kritisieren, habe sie sich in ihrem Text auf ein prinzipielles und strukturelles Problem konzentriert. Es gehe nicht um individuelle Schicksale, sondern um die kulturelle, strukturelle Dimension von Frauenfeindlichkeit.»
Kaltërina Latifi sei seit 2021 Kolumnistin des «Magazin» und habe sich in ihren Beiträgen wiederholt mit der Rolle der Frauen im albanischen Kontext befasst. Ihre Beschreibungen stütze sie auf ihre Lebenserfahrung und ihre Beobachtungen im persönlichen Umfeld.
Der Artikel sei als Essay überschrieben und somit klar als Meinungsstück (2.3) gekennzeichnet, erklärte die «Magazin»-Redaktion. Die Autorin weise ausdrücklich darauf hin, dass ihre Aussage über den fehlenden Selbstwert der Frau im tradierten albanischen Wertesystem eine «Verkürzung» darstelle.
Die Redaktion sieht Richtlinie 8.2 ebenfalls als nicht verletzt an bezüglich des beschriebenen Sexismus in der albanischen Kultur. «Vielmehr würden die Beschwerdeführerinnen ihren Vorwurf auf eine undifferenzierte Lektüre stützen. Denn die Autorin schreibe nicht, dass alle Frauen in der albanischen Kultur als Objekte behandelt würden. Vielmehr nennt sie eine geschilderte Episode als ‚symptomatisch‘ und bezeichnet Sexismus als ‚Standardeinstellung‘ der albanischen Kultur. Das bedeute gerade nicht, dass alle Albaner Sexisten und alle Frauen Sexismusopfer seien», so die Ausführungen der Redaktion.
Der Presserat begrüsse es, wie die Debatte im Anschluss an den Artikel ermöglicht und geführt wurde: Das «Magazin» habe einen offenen Brief von 90 Absenderinnen, aber auch zustimmende Zuschriften in einer weiteren Publikation veröffentlicht. Zudem nahm die Autorin Kaltërina Latifi an einer Podiumsdiskussion teil, wo auch Gegenstimmen vertreten waren.
Die Beschwerde wurde in allen Punkten abgewiesen.




