Ohne die Story zu überprüfen, berichtete der «Tages-Anzeiger», dass zwei Frauenstreik-Teilnehmerinnen von SVP-Ständerat Roland Eberle mit Wasser übergossen worden sein. Die Zeitung hat damit die Wahrheitspflicht verletzt, das ändert auch die nachträgliche Entschuldigung nicht.
«SVP-Ständerat soll Frauen mit obszönen Gesten beleidigt haben» titelte der «Tages-Anzeiger» am 15. Juni 2019 auf seiner Website. Der von Denis von Burg und Mischa Aebi verfasste kurze Artikel bezog sich auf ein Social-Media-Video, das von zwei Teilnehmerinnen des Frauenstreiks, Nicole Ziegler und Simone Näf, aufgenommen worden war.
Die beiden Frauen machten geltend, sie seien von SVP-Ständerat Roland Eberle vor dessen Wohnung aus dem ersten Stock mit Wasser übergossen und mit obszönen Gesten bedacht worden, nachdem sie dort vier Blättchen aus einem grossen Strauch gezupft hätten.
Sie fänden ein solches Verhalten «jenseits von Gut und Böse» für einen Ständerat, es zeige einmal mehr, dass etwas geschehen müsse gegen den Sexismus.
Gegenüber dem Presserat beklagte sich ein Beschwerdeführer, dass die Geschichte eine «blanke Lüge» gewesen sei - was sich nach der Publikation tatsächlich herausgestellt hatte. Die Autoren hätten merken müssen, dass die Geschichte unglaubhaft sei und sie hätten sie nachrecherchieren müssen. Es habe ja nicht geeilt mit dieser «abstrusen Meldung».
Hat der «Tages-Anzeige» genug unternommen, um den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu überprüfen? Die Rechtsabteilung von Tamedia verteidigte sich gegenüber dem Presserat: Die Quelle sei unter verschiedenen Gesichtspunkten überprüft worden, den Betroffenen selber zu den schweren Vorwürfen zu befragen, sei nicht möglich gewesen, er sei an jenem Samstag nicht erreichbar gewesen. Die Geschichte aber sei dringlich gewesen, die Publikation hätte keinen Aufschub vertragen.
Der Presserat kann dem nicht folgen: «Ob ein Ständerat zwei Frauen mit Wasser begiesst und obszön beleidigt, ist zwar in der Tat eine Geschichte von Relevanz, wenn sie denn stimmt. Aber ob sie stimmt, muss angesichts der Schwere des Vorwurfs von der Redaktion sichergestellt werden, und dazu gehört - gerade in einem äusserst ungewöhnlichen Fall wie diesem und dem damit verbundenen schweren Vorwurf - die Konfrontation mit dem Betroffenen.»
Dringend hingegen ist die Story für den Presserat nicht gewesen. «Dass die Redaktionen immer schneller arbeiten, um online sofort präsent zu sein, wie Tamedia das zu bedenken gibt, ist ihre eigene Politik; sie können sich nicht darauf berufen, wenn sie sich gerade deswegen zu wenig Zeit für gründliches Arbeiten nehmen.»
Die Redaktion publizierte ein paar Tage nach Veröffentlichung der Lügengeschichte eine Entschuldigung.