Seit Jahrzehnten ist er umstritten und doch immer noch in Amt und Würden: Artikel 293 des Strafgesetzbuchs. Er bestraft die Publikation von Informationen, die irgendeine Amtsstelle als «vertraulich» eingestuft hat.
Die Rechtskommission des Nationalrats hat vor Kurzem beschlossen, dass der «Maulkorb-Paragraf» nicht gestrichen werden soll, wie es 2011 eine parlamentarische Initiative des Zuger Nationalrats Josef Lang verlangt hatte, sondern nur an die Rechtsprechung des Europäischen Menschengerichtshofs angepasst werden soll.
Der «alte Zopf», den schon Bundespräsident Arnold Koller einst vergeblich abschneiden wollte, scheint zählebig zu sein. Der Klein Report hat mit Martin Stoll gesprochen, der als Bundesverwaltungs-Korrespondent für die «SonntagsZeitung» schreibt und das Portal Öffentlichkeitsgesetz.ch initiierte. Mit dem «Fall Jagmetti» kam er Ende der 1990er-Jahre selbst in Berührung mit Artikel 293.
Herr Stoll, worum gings damals?
Martin Stoll: «Ende 2000 hat das Bundesgericht eine Busse über 800 Franken bestätigt, mit welcher ich wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen belegt worden war. Dem Richterspruch war die 'Jagmetti-Affäre' vorausgegangen. In der 'SonntagsZeitung' hatte wir im Januar 1997 ein vertrauliches Strategiepapier des damaligen Schweizer Botschafters in den USA, Carlo Jagmetti, publik gemacht. Die Schweiz stand damals in einem ernsthaften Konflikt mit dem jüdischen Weltkongress über die Entschädigung von Holocaust-Opfern für nachrichtenlose jüdische Vermögen auf Schweizer Bankkonten.»
Wie kamen Sie zum Entscheid, das Dokument, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, in der «SonntagsZeitung» abzudrucken?
Stoll: «Jagmetti war in den Verhandlungen in den USA unser wichtigster Mann. In seinem vertraulichen Strategiepapier hatte er der Zentrale in Bern seine Lageanalyse unterbreitet. In dieser verwendete er ungewöhnlich harte Worte. Er sprach von einem 'Krieg' in den USA, der gegen die Schweiz geführt werde. Senator Alfonse D'Amato und die jüdischen Organisationen bezeichnete er als 'Gegner', von denen man 'den meisten nicht vertrauen kann'. In der 'SonntagsZeitung' thematisierten wir diese aggressive Wortwahl und stellten so zur Debatte, ob die Verhandlungsführung in den richtigen Händen lag.»
Was hielt das Aussendepartement in Bern von Jagmetti?
Stoll: «Verwaltungsintern war damals zu dieser Frage längst eine Diskussion im Gange; als die 'SonntagsZeitung' das Strategiepapier von Botschafter Jagmetti publizierte, gab es im Schweizer Aussendepartement einen Konflikt über die einzuschlagende Strategie. Im Umgang mit dem Konflikt über nachrichtenlose Vermögen wurden zwei Standpunkte debattiert: Die offizielle, öffentlich auch kommunizierte Meinung war, dass in der Vergangenheit Fehler gemacht worden sind, und dass die Sache rasch geklärt werden müsse. Die andere Haltung war im Aussendepartement hoch umstritten und in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Repräsentiert wurde sie durch Botschafter Jagmetti, und in seinem Analysepapier brachte er diese harte, uneinsichtige Linie klar zum Ausdruck. Ein wichtiger Beamter des Aussendepartements kritisierte mir gegenüber Herrn Jagmetti als 'Botschafter mit Bunkermentalität'.»
Was gab schliesslich den Ausschlag, das vertrauliche Strategiepapier zu veröffentlichen?
Stoll: «Nach der Lektüre des Jagmetti-Papiers kamen wir zum Schluss, dass die aus dem Innern des Aussendepartements formulierte Kritik gerechtfertigt war. Herr Jagmetti stand nicht für den von der Regierung angestrebten offenen Dialog mit jüdischen Organisationen. Wir waren uns sicher, dass die Öffentlichkeit dies wissen musste.»
Und was geschah dann?
Stoll: «Nach der Publikation der vertraulichen Diplomatenpost war der Bundesrat in Aufruhr. Jagmetti zog sich aus Washington zurück und die Regierung liess gestützt auf Artikel 293 ein Verfahren gegen mich einleiten. Die Argumente, die im Verfahren von staatlicher Seite dann vorgebracht wurden, zeigen die Problematik des medienfeindlichen Maulkorb-Artikels.»
...nämlich?
Stoll: «Die vom Bundesrat mit dem Verfahren beauftragten Richter kritisierten, dass ich mit der Publikation des Lageberichts gegen 'Landesinteressen' verstossen habe. Ich wurde beschuldigt, der Regierung in einer schwierigen Situation in den Rücken gefallen zu sein. Diese Argumentation schockiert noch heute und zeigt die Gefährlichkeit von Artikel 293. In normalen Zeiten wird von uns Medienschaffenden zum Glück nicht verlangt, die Interessen der Regierung zu unterstützen. Nicht in der Schweiz. Es gibt bei uns einen breiten Konsens darüber, dass es die Pflicht von Medienschaffenden ist, kritisch hinzuschauen und auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen.»
Doch gibt es nicht Dinge, die der Staat mit gutem Recht geheim halten muss?
Stoll: «Grundsätzlich sendet der Staat hier ein falsches Signal. Er geht mit dem wichtigen Gut der Medienfreiheit zu unsorgfältig und engherzig um. Zwar sollen Gerichte nach dem jüngst gemachten Vorschlag der Rechtskommission des Nationalrats das Geheimhaltungsinteresse des Staates und das Informationsinteresse der Öffentlichkeit künftig gegeneinander abwägen. Wo das öffentliche Interesse gross ist, soll eine Publikation in Zukunft möglich sein, wenn voyeuristische Motive hinter einer Publikation stehen, soll bestraft werden. Steht aber ein Maulkorb-Artikel zur Verfügung, wird der Staat in unangenehmen Situationen in Versuchung geführt, Medienschaffende unter Druck zu setzen, zu gängeln und auf Linie zu bringen.»
Sie zogen damals den «Fall Jagmetti», unterstützt von Tamedia, weiter an den Menschengerichtshof nach Strassburg. Weshalb?
Stoll: «Weil ich das Gefühl hatte, die Schweizer Richter hätten - von der öffentlichen Empörung geprägt - ein falsches Urteil gefällt. Der Menschengerichtshof kritisierte zwar die verkürzte Darstellung des Papiers, stützte aber unsere Argumentation, dass diplomatische Depeschen nicht tabu sein können. Auch im Nachhinein gesehen war die Publikation des vertraulichen Papiers richtig. Denn sie hatte zur Folge, dass die wichtigen Verhandlungen um das nachrichtenlose Vermögen danach mit offenem Herzen und frei von Vorurteilen und unnötigen Barrieren geführt werden konnten.»
Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats will den Artikel 293 nicht aufheben, sondern nur abschwächen. Wie sehen Sie persönlich die Zukunft dieser Strafnorm?
Stoll: «Artikel 293 muss ersatzlos gestrichen werden. Wir Medienschaffende haben das Vertrauen des Staates verdient. Es ist ja nicht so, dass wir jedes Staatsgeheimnis, das wir erfahren, ohne Not herausposaunen. Wir haben hier eine klare Haltung, starke Standesregeln und einen gut funktionierenden Presserat. Wir stellen uns die Frage nach dem öffentlichen Interesse Tag für Tag, auch bei unaufgeregten, kleinen Geschichten. Und wo Grenzen überschritten werden, reagiert die Branche selbstkritisch.»
Ein Gegenstück zu Artikel 293 ist das seit 2004 geltende Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung. Herr Stoll, Sie sind Vorstandmitglied des Recherchenetzwerks investigativ.ch und Geschäftsführer des Vereins Öffentlichkeitsgesetz.ch, der sich für die Umsetzung der Öffentlichkeitsgesetze in der Schweiz einsetzt. Wie halten es die Behörden ihrerseits mit der Umsetzung des Öffentlichkeitsprinzips?
Stoll: «Es häufen sich die Grenzüberschreitungen auf der Seite der Verwaltung in letzter Zeit. Einzelne Verwaltungsstellen leisten bei der Umsetzung des Öffentlichkeitsprinzips, mit der die Bundesbehörden vom Gesetzgeber beauftragt worden sind, aktiven Widerstand. Sie verlangen unverschämt hohe Gebührenrechnungen für den Zugang zu amtlichen Dokumenten und versuchen so, das verfassungsmässig garantierte Grundrecht nach freiem Zugang zu Informationen auszuhebeln. Oder dann engagieren sie auf Kosten der Steuerzahler teurere Anwaltskanzleien, um offensichtlich aussichtslose Verfahren bis vor Bundesgericht zu ziehen, wie die Rüstungsbeschaffungsstelle des Bundes. Armasuisse hat mit allen Mitteln zu verhindern versucht, dass sie einen Auszug aus der elektronischen Agenda ihres früheren Direktors vollumfänglich veröffentlichen muss. Obwohl sich zuvor schon das Bundesamt für Justiz, der Öffentlichkeitsbeauftragte des Bundes und das Bundesverwaltungsgericht für die Herausgabe ausgesprochen hatten, zog sie den Fall durch alle Instanzen und bezahlte externen Anwälten dafür fast 30'000 Franken.»