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Sonntag
27.11.2016

Medien / Publizistik

Was bedeutet es, wenn ein Journalist schreibt, eine Frau sitze im Rollstuhl? Sagt er dann auch, dass sie sich ohne Rollstuhl nicht mehr bewegen kann? Und genügt es, bei schweren Vorwürfen die Kritisierten erst am Tag nach der Publikation zu Wort kommen zu lassen? Der Presserat hat einen kniffligen Streit zwischen Tamedia und der Krankenkasse Concordia unter die Lupe genommen. 

«Wie viel darf eine Krankheit kosten?» betitelten der «Tages-Anzeiger» im Februar einen Bericht, der im «Bund» unter dem Titel «Patientin soll abnehmen – oder zahlen» veröffentlicht wurde. Auf dem Foto ist ein leerer Rollstuhl zu sehen, darunter die Legende: «Kein Sport möglich: Ohne Rollstuhl kann sich die Morbus-Pompe-Patientin nicht mehr fortbewegen.»

Der Artikel erzählt vom Schicksal einer Frau, die an der seltenen Muskelschwundkrankheit Morbus Pompe leidet. Das Medikament, das die Symptome stabilisiert, gehört mit 300'000 bis 520'000 Franken Behandlungskosten im Jahr zu den teuersten Medikamenten der Schweiz. Das Mittel wird nach Körpergewicht dosiert.

Der in den beiden Tamedia-Blättern publizierte Artikel stützte sich auf einen Brief der Concordia, in dem die Krankenkasse die Patientin an ihre «Schadenminderungspflicht» erinnert. Laut Artikel würde der Versicherer in dem Schreiben eine erfolgreiche Schlankheitskur als «einen Schritt in die richtige Richtung» loben und eine weitere Gewichtsreduktion verlangen. Dies mit der Ankündigung, nach Ablauf eines Ultimatums nur noch eine Medikamentendosis, die für das abermals reduzierte Körpergewicht berechnet ist, bezahlen zu wollen, wie in der Urteilsbegründung des Presserates nachzulesen ist.

Concordia beschwerte sich beim Aufsichtsorgan der Presse, der durch Text und Foto suggerierte Eindruck, das es sich um «eine Frau im Rollstuhl» handle, sei «falsch, wahrheitswidrig und irreführend», was auch der behandelnde Arzt bestätigte. 

Die Krankenkasse kreidete Tamedia zudem an, im auf «Tages-Anzeiger» online veröffentlichten Artikel werde behauptet, gemäss Patientenschützerin und GLP-Nationalrätin Margrit Kessler gehe die Versicherung systematisch vor. Das Bundesamt für Gesundheit habe klare Richtlinien für die Vergabe des Muskelschwund-Medikaments formuliert, welche die Patientin offenbar erfülle. Kessler wird wie folgt zitiert: «Die Concordia setzt sich aus rein wirtschaftlichen Überlegungen über diese hinweg.» 

Die Tamedia-Blätter hätten vor der Veröffentlichung dieser schweren Vorwürfe Möglichkeit zur Stellungnahme geben müsse, protestierte die Krankenkasse. Man sehe sich bei solcher «tendenziösen Falschberichterstattung» in der «undankbaren Rolle», «aus Datenschutzgründen nur sehr beschränkt zu Einzelfällen Stellung nehmen» zu können, beschwerte sich der Concordia-Rechtsdienst mit scharfer Zunge. «Die grundlegenden Pflichten seriöser journalistischer Arbeit wurden vorliegend mit Füssen getreten.»

«Die Beschwerdeführerin versucht, mit einem Detail vom Wesentlichen abzulenken», entgegnete der Rechtsdienst des Zürcher Medienkonzerns. Die Information, die Patientin sitze im Rollstuhl, stamme vom behandelnden Arzt. Zudem: «In dem beanstandeten Artikel stand, dass die Frau im Rollstuhl sitze, was nicht heisst, dass sie dies ständig tut und sich ohne den Rollstuhl nicht bewegen kann.»

Wie die Bildzeile «Ohne Rollstuhl kann sich die Morbus-Pompe-Patientin nicht mehr fortbewegen» zu diesem Argument passen soll, begründete Tamedia damit, dass sie mit «Kein Sport möglich» eingeleitet wurde. Sport sei der Patientin ohne Rollstuhl nicht mehr möglich: Das sei die Aussage der Bildlegende gewesen, so die etwas haarspalterische Replik der Tamedia-Juristen.

Für die erste Kammer des Presserats, die den Fall beurteilte, stand in der strittigen Rollstuhl-Frage Aussage gegen Aussage. Concordia hatte dem Aufsichtsorgan empfohlen, selbst beim Arzt nachzufragen. Der Rat kann jedoch keine eigenen Untersuchungen vornehmen. Ob die Tamedia-Zeitungen die Wahrheitspflicht verletzt haben, kann er demnach nicht beurteilen.

Dass Tamedia die Stellungnahme der Krankenkasse zu den Vorwürfen, die Patientenschützerin Kessler im Online-Begleitartikel erhoben hatte, erst am Folgetag eingeholt und aufgeschaltet hat, genügte dem Presserat nicht. Die Verletzung der Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen werde «nicht einfach dadurch ungeschehen gemacht und quasi nachgeheilt, indem die fehlende Anhörung nachträglich eingeholt» werde, so das Urteil.