Das neue Projekt aus Bern schlägt auf Social Media hohe Wellen: Besonders auf Twitter ist die «Hauptstadt», wie das neue Online-Medium heisst, am Dienstagmorgen Hauptthema bei vielen Schweizer Medienschaffenden.
Grund dafür: Nun hat das Crowdfunding für die Hauptstadt begonnen.
Doch was hat es damit genau auf sich, wer steckt konkret hinter der Hauptstadt, wie wird sich das Online-Medium finanzieren und was sind die nächsten Schritte bis zur finalen Lancierung?
Der Klein Report hat bei Jürg Steiner, ehemaliger «BZ»-Journalist, Autor und Mitinitiant des neuen Projekts, nachgefragt. Und er hat ausführlich geantwortet.
Zurzeit schiessen neue mediale Projekte wie Pilze aus dem Boden. Wieso braucht es das Projekt Hauptstadt genau jetzt?
Jürg Steiner: «Seit Charles von Graffenried 2007 seinen Verlag mit ‚Der Bund‘ und ‚Berner Zeitung‘ an Tamedia verkaufte, hat Bern seine Medienvielfalt ökonomisch nach Zürich ausgelagert. Die Zusammenlegung der Lokalteile von ‚Bund‘ und ‚BZ‘ per Oktober 21 ist eine Art Endpunkt dieses Prozesses. Die Hauptstadt möchte das ein Stück weit ändern und dieser Entwicklung nicht nur publizistisch, sondern auch unternehmerisch etwas entgegensetzen. Journalismus besteht nicht bloss aus dem, was am Schluss als Text, Ton oder Bild erscheint, sondern auch daraus, wie es entsteht und warum. Deshalb verfolgt die Hauptstadt ein gemeinnütziges Geschäftsmodell, das nicht nur auf Klickzahlen fokussiert, sondern auf den Mehrwert für die lokale Demokratie. Die Hauptstadt legt Wert auf eine transparente, respektvolle und konstruktive Unternehmenskultur und übt diese schon jetzt, in der Projektphase, konsequent aus. Und die Hauptstadt will einen verständlichen, zugänglichen, hartnäckigen und konstruktiven Lokaljournalismus betreiben.»
Über was und wie wird die Hauptstadt berichten und wie wird sich das neue Medium von den zwei grossen Zeitungen in Bern, der «Berner Zeitung» und dem «Bund», unterscheiden?
Steiner: «Bekanntlich gibt es in Bern ja ab 20. Oktober nur noch eine Lokalredaktion, die die beiden Titel ‚Bund‘ und ‚Berner Zeitung‘ bespielt. Die Hauptstadt fokussiert in ihrer Berichterstattung auf den Grossraum Bern. Wir werden einen Newsletter als publizistisches Rückgrat einführen, der alles Wichtige des Tages in Bern auf den Punkt bringt. Daneben werden wir punktuell mit Recherchen, Reportagen und Interviews arbeiten. Wir werden viel weniger publizieren als ‚Bund‘ und ‚BZ‘, dafür mit anderem Fokus...»
Wie meinen Sie das genau?
Jürg Steiner: «Der Lokaljournalismus in Bern geht nach wie vor an vielen Menschen vorbei, weil die Erzählweise zu kompliziert und zu kleinkariert ist und die Anforderung an das Vorwissen zu hoch. Gut erzählte lokale Basics mit feinem Humor, das halten wir für eine publizistische Lücke, weil viele Pendlerinnen und Pendler oder neu Zugezogene sich nicht mit lokalen Details beschäftigen möchten, aber trotzdem über die Region, in der sie leben, ins Bild gesetzt werden.»
Was sind konkret die nächsten Schritte bis zur Lancierung?
Steiner: «Vom 19. Oktober bis zum 19. November läuft unsere Crowdfunding-Kampagne. Wir verstehen sie als Markt- und Nachfragetest. Finden wir mindestens 1000 Unterstützerinnen und Unterstützer, die für 120 Franken pro Jahr ein Abo lösen, halten wir die Nachfrage für vorhanden. Um zu starten, brauchen wir aber zusätzlich Anschubfinanzierer, die uns in den ersten drei Jahren unterstützen. Wir sind mit verschiedenen Institutionen und Stiftungen im Gespräch, die ihr Engagement aber auch vom erfolgreichen Crowdfunding abhängig machen. Kommt die Anschubfinanzierung zusammen, bauen wir eine Redaktion und eine Publikationsplattform auf und beginnen ungefähr im März mit Publizieren.»
Wie seid Ihr auf den Namen «Hauptstadt» gekommen? Und was entgegnet Ihr, wenn jemand meint, dass Bern nicht die Hauptstadt der Schweiz, sondern die Bundesstadt ist?
Jürg Steiner: «Bern wurde 1848 auch darum ‚nur‘ Bundesstadt der Eidgenossenschaft, weil man das zuvor mächtige Bern im föderalistischen Sinn und Geist in die Schranken weisen wollte. Die offizielle Bezeichnung Bundesstadt ist deshalb auch eine Chiffre für ein klein gehaltenes Bern, das bis heute nicht an übertriebener Selbstachtung leidet. Wenn wir unser Medium ‚Hauptstadt‘ nennen, ist das auch eine Aufforderung an Bern, sich zu bewegen, Selbstbewusstsein, Mut und Unternehmergeist zu zeigen.»
Die Hauptstadt wird als Online-Medium an den Start gehen. Weshalb habt Ihr euch bewusst gegen Print entschieden?
Steiner: «Weil wir ein lokales Print-Start-up wegen der horrenden Vorinvestitionen für unfinanzierbar halten.»
Wie wird sich das neue Medium in Bern finanzieren?
Jürg Steiner: «Gemäss Businessplan wäre die Hauptstadt praktisch selbsttragend, wenn sie 4000 Abonnierende erreicht. Ergänzend können mit Gönnervereinigungen Finanzmittel generiert werden und je nach dem Ausgang der Abstimmung im Februar mit Geldern aus dem Medienpaket des Bundes. Damit wir überhaupt so weit kommen, ist aber während der Startphase eine Anschubfinanzierung nötig.»
Auf wann ist der Start der Hauptstadt geplant?
Steiner: «Wenn alles läuft wie am Schnürchen, ist es realistisch, im ersten Quartal 2022 (März) starten zu können. Wir sind aber in einer rollenden Planung, die immer wieder neu justiert wird.»
Wie setzt sich heute das Team hinter der Hauptstadt zusammen und wer wird noch dazustossen?
Jürg Steiner: «Hinter der Hauptstadt stehe ich, die langjährige Kulturjournalistin und Reporterin Marina Bolzli und der Politjournalist Joël Widmer. Wir werden unterstützt von einer heterogenen, generationenübergreifenden, rund 15-köpfigen Gruppe, mit der wir die Hauptstadt im Laufe dieses Jahres gemeinsam entwickelt haben. Das Know-how beschränkt sich nicht auf das Journalistische...»
Worauf noch?
Steiner: «Mehrere OK-Mitglieder haben Führungserfahrung. Zudem ist IT-, Social-Media-, Business- und Treuhand-Kompetenz in der Gruppe vorhanden. Nicht inhouse abrufbares Wissen wird mit dem Beizug von Berater*innen kompensiert. Wesentliches Merkmal des Projekts ist der unternehmerische Approach der Gründerinnen und Gründer: Marina Bolzli, Joël Widmer und ich haben unsere Stellen gekündigt und widmen uns derzeit auf eigenes Risiko dem Aufbau von der Hauptstadt als eine Vorinvestition in das künftige Unternehmen. Wir werden, sofern die Gründung erfolgreich ist, auch publizistische Verantwortung übernehmen.»