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Donnerstag
02.01.2025

Medien / Publizistik

Ab wann darf man jemanden Verschwörungstheoretikerin nennen? Freundinnen wehrten sich für die Schriftstellerin A. L. Kennedy... (Bild: Wikipedia)

Ab wann darf man jemanden Verschwörungstheoretikerin nennen? Freundinnen wehrten sich für die Schriftstellerin A. L. Kennedy... (Bild: Wikipedia)

Die Schweizer Verlegerinnen, die Werke der britischen Schriftstellerin A. L. Kennedy herausgeben, haben beim Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen die «Neue Zürcher Zeitung» eingereicht.

Auslöser war ein Porträt von Roman Bucheli am 28. April 2023. Im Artikel «Eine sanfte Schottin mit rabiaten Ansichten» bezeichnete er die Schriftstellerin wegen ihrer Äusserungen zu Brexit und der Corona-Pandemie als «Verschwörungstheoretikerin».

Angerissen hatte die «Neue Zürcher Zeitung» die Story auf der Front mit Foto und Hauptartikel. Neben andern Punkten steht bei der Beschwerde hauptsächlich das Recht auf Anhörung bei schweren Vorwürfen im Fokus. «Als Verschwörungstheoretikerin bezeichnet zu werden sei massiv rufschädigend und die Schriftstellerin habe nicht direkt Stellung nehmen können», zitiert der Presserat die Beschwerdeführerinnen.

Zur Richtlinie 3.8 – Anhörung bei schweren Vorwürfen – gibt der Presserat die Rechtfertigung der «Neuen Zürcher Zeitung» wider: «…räumt die Redaktion ein, dass die Schriftstellerin während des Gesprächs wohl nicht mit dem Begriff «Verschwörungstheoretikerin» konfrontiert worden sei. Allerdings sei sie mit der Aussage des Redaktors, ihre Aussagen seien Unfug, sinngemäss angehört worden.»

Es geht um die Frage: Muss ein Journalist eine Person mit seinen schweren Anschuldigungen konfrontieren, bevor er in die Tasten greift. Hätte A. L. Kennedy angehört werden sollen, bevor sie öffentlich als Verschwörungstheoretikerin bezeichnet wird, wie es die Beschwerdeführerinnen geltend machen?

Die erste Kammer des Selbstregulierungs-Organs beurteilte den Fall. Präsidentin Susan Boos trat von sich aus in den Ausstand. Ausseinandergesetzt mit dem Fall haben sich Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Caspar Selg.

Pikant: Gemäss Presserat galt, als der Artikel publiziert wurde, noch die alte Richtlinie 3.8 – die revidierte Fassung trat kurz darauf in Kraft.

Laut der alten Richtlinie 3.8 musste eine Person angehört werden, wenn ihr «schwere Vorwürfe» gemacht wurden. Nach damaliger Praxis verstand der Presserat draunter «ein illegales oder vergleichbares Verhalten». Gemäss dieser Praxis wertete der Presserat den Begriff «Verschwörungstheoretiker» nicht als schweren Vorwurf im Sinne von «illegal oder vergleichbar». Entsprechend war eine Anhörung nicht zwingend.

Weiter hält der Presserat fest: «Trotzdem wäre es angebracht gewesen, die Autorin dazu anzuhören und ihre Stellungnahme kurz wiederzugeben. Zumal die NZZ in ihrer Beschwerdeantwort selber schreibt: 'Selbstverständlich ist es nicht angebracht, unbescholtene Bürger als Verschwörungstheoretiker zu bezeichnen'.»

Dieses Versäumnis erreicht jedoch nach damals noch geltender Praxis laut Presserat nicht den Grad eines Verstosses gegen die Richtlinie 3.8.

Doch aufgepasst: «Gemäss der neuen Regelung von Richtlinie 3.8, die seit 1. Mai 2023 in Kraft ist, wäre dieser Fall gegebenenfalls anders zu beurteilen», folgert der Presserat. «Die aktuell gültige Regelung von Richtlinie 3.8 verschärft die Pflicht zum Anhören etwas: Neu gilt, dass jemand angehört werden muss, wenn die Vorwürfe «gravierendes Fehlverhalten beschreiben oder sonstwie geeignet sind, jemandes Ruf schwerwiegend zu schädigen.»

Kommentar des Klein Reports: In der Praxis kommt Richtlinie 3.8 bei privaten Personen sowie Sportlern, Showstars, Wirtschaftsführern, Wissenschaftlern und Polikern aus der Schweiz eine entscheidende Bedeutung zu. Aber Hand aufs Herz: Welcher Journalist konfrontiert international umstrittene Persönlichkeiten – beispielsweise unliebsame Politiker oder CEOs – bevor er einen kritischen Kommentar oder ein bissiges Porträt schreibt?

Darf man, nur weil einem seine Politik nicht passt, frisch von der Leber weg immer wieder über Donald Trump herziehen? Selbst wenn der Wille zur Anhörung da ist, wird es auf die Schnelle einem Journalisten meist auch kaum möglich sein, rasch den Papst oder Prinz Harry um eine Stellungnahme zu bitten.

Es wird sich zeigen, ob die neue Richtlinie 3.8 künftig auch die vom Mainstream gescholtenen Persönlichkeiten in Schutz nimmt. Oder ist die Richtlinie eine Alibiübung?