Als TV-Journalist hat er eine herausragende Karriere gemacht. Noch heute gilt er als eine der wichtigsten Stimmen im politischen Journalismus und als einer der kompetentesten Analysten der Weltlage.
Der Klein Report hat Erich Gysling überraschenderweise auf der «Offenen Rennbahn» in Oerlikon getroffen – und sich mit ihm über sein Spezialgebiet, die Ereignisse im Nahen Osten, und die Arbeit des Schweizer Fernsehens unterhalten.
Wir sind etwas überrascht, dass wir Sie an einem Radmeeting in Oerlikon treffen. Ist dies ein Zufall?
Erich Gysling: «Nein. Wenn es sich einrichten lässt, komme ich mindestens einmal im Jahr an ein Dienstagabendmeeting auf die Offene Rennbahn – am liebsten an die Schweizer Meisterschaft der Steher. Diese Rennen faszinierten mich schon als Kind.»
Das heisst, Sie haben eine lange Vergangenheit auf der Rennbahn?
Gysling: «Tatsächlich. Das erste Steherrennen hier sah ich 1946 – die WM. Damals wurde der Waadtländer Jacques Besson im letzten Moment und um Haaresbreite vom Italiener Elia Frosio geschlagen. Das war ein echtes Drama, das uns auf dem Schulhausplatz lange beschäftigte. Später kam dann das Gerücht auf, die Entscheidung sei unter den Schrittmachern abgesprochen gewesen. Aber dies trübte unsere Leidenschaft für den Stehersport kaum.»
Sie geniessen den verdienten Ruhestand. Wie oft treten Sie noch öffentlich auf?
Gysling: «Bis zum vergangenen Jahr hielt ich rund 30 Vorträge. In diesem Jahr reduzierte ich ganz bewusst auf 15. An der Senioren-Universität in Luzern gab ich kürzlich meinen letzten Vortrag. Am Fernsehen und Radio äussere ich mich, wenn ich angefragt werde – das ist vor allem bei ’Tele Züri’ relativ häufig der Fall. Und ich schreibe viel – auf dem Newsportal journal21.ch gemeinsam mit erfahrenen Journalisten wie Heiner Hug, Reinhard Meier, Urs Meier oder Ignaz Staub. Mein Spezialgebiet ist die Situation im Nahen und im Mittleren Osten.»
Es besteht grosser Erklärungsbedarf…
Gysling: «… ja, leider. Aber ich zwinge mich, die Lage immer wieder zu analysieren und Erklärungen zu suchen.»
Dem Schweizer Fernsehen wird vorgeworfen, dass es in seiner Nahost-Berichterstattung eine pro-palästinensische Haltung einnimmt. Sind Sie der gleichen Meinung?
Gysling: «Nein. Das sehe ich nicht so. Ich bin der Meinung, dass sich SRF um Objektivität und Ausgewogenheit bemüht. Mit Susanne Brunner leitet eine Journalistin die Auslandredaktion, die fünf Jahre als Nahostkorrespondentin in Amman gearbeitet hat und die Verhältnisse aus erster Hand kennt. Für mich macht SRF einen sehr guten Job.»
Aber weshalb hängt der Vorwurf im Raum, dass Israel zu kritisch beurteilt wird?
Gysling: «Auf beiden Seiten wird sehr engagiert um die Hoheit in Sachen Kommunikation und Information gekämpft. Man darf nicht vergessen, dass auch das israelische Lager eine starke Lobby besitzt. Da werden angebliche Fehlleistungen in den Medien schon fast systematisch angeprangert. Da steckt auch ein Konzept dahinter.»
Was raten Sie Journalisten, die aus der Redaktion über diese furchtbaren Ereignisse berichten müssen?
Gysling: «Dass sie alles lesen, was zur Verfügung steht – sowohl von der israelischen als auch von der palästinensischen Seite. Bei vielen Informationen handelt es sich um klare und nachprüfbare Fakten – dass beispielsweise Israel im Gazastreifen einen brutalen Vernichtungskrieg führt. Aber auch, dass die Hamas mit dem Attentat vom 7. Oktober 2023 diese Eskalation provoziert hat. Aber meiner Meinung nach rechtfertigt dies die israelische Kriegsführung nicht.»
Bedauern Sie es, dass Sie als Journalist nicht mehr in der ersten Reihe stehen?
Gysling: «Nein. Ich kann mich genügend ausdrücken. Aber ich mache die Feststellung, dass sich viele Leute durch die Ereignisse deprimieren lassen und nicht mehr hinschauen mögen. Sie blenden die Nachrichten quasi aus. Doch wir Journalisten dürfen uns davon nicht beeinflussen lassen. Es ist unsere Pflicht, die Dinge anzusprechen, sichtbar zu machen und die Menschen ausgewogen zu informieren.»