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Donnerstag
27.10.2022

Medien / Publizistik

«Das Bundesgericht nennt uns Watchdogs»

«Das Bundesgericht nennt uns Watchdogs»

Die ehemalige NZZ- und heutige «Republik»-Journalistin Brigitte Hürlimann ist mit dem Greulich-Kulturpreis 2022 für ihre Gerichtsreportagen ausgezeichnet worden.

Der Klein Report sprach mit der Journalistin und Juristin über die Rolle als «Public Watchdog» im Gerichtssaal, die journalistische Unterbelichtung von Alltagskonflikten und Zivilprozessen und über den stiefmütterlichen Umgang mit dem Justiz-Ressort in den Redaktionen.

Frau Hürlimann, sie sind mit dem Greulich-Kulturpreis 2022 ausgezeichnet worden. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie und Ihre Arbeit?
Brigitte Hürlimann
: «Der Preis ist eine grosse Ehre und Anerkennung. Nicht nur für mich, sondern für alle Kollegen und Kolleginnen, die aus den Gerichtssälen und generell über die Arbeit der Justiz berichten. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die viel Fachwissen erfordert – und die Arbeitszeiten sind oft unberechenbar. Stichwort: Urteilseröffnung um 22 Uhr. Aber es geht darum, über das Wirken der dritten Gewalt im Staat zu berichten, und das ist von höchster Relevanz. Das Bundesgericht nennt die Gerichtsberichterstatter und Gerichtsberichterstatterinnen auch ‚Public Watchdogs‘.»

Ende der 1980er-Jahre sassen Sie für den «Tages-Anzeiger» zum ersten Mal auf den Besucherrängen im Gerichtssaal. Ab 2005 waren sie bei der «Neuen Zürcher Zeitung» vor allem für die Justiz-Berichterstattung verantwortlich. Seit 2018 schreiben Sie Gerichtsreportagen für die «Republik». Was fasziniert Sie bis heute an dieser Aufgabe?
Hürlimann: «Im Gerichtssaal werden wir mit dem puren Leben konfrontiert. Viel hat mit Alltagskonflikten zu tun – aber immer wieder stösst man auch auf Ausnahmesituationen, auf menschliche Abgründe. Spektakuläre Kriminalität führt zur grössten öffentlichen Aufmerksamkeit und wird medial gut abgedeckt. Fast noch spannender ist aber die Aufarbeitung der Alltagskriminalität; das sind Situationen, die uns alle betreffen könnten. Der Streit in der Waschküche. Die Motive des Serieneinbrechers. Gewalt in der Beziehung. Zoff im Ausgang. Velofahrer gegen SUV-Fahrer. An solchen Prozessen sitzt kaum je eine Journalistin im Gerichtssaal. Und viel zu wenig sind wir Medienschaffenden leider in der Lage, Zivilprozesse abzudecken, also etwa Fälle vor einem Miet- oder Arbeitsgericht.»

«Gericht» tönt nach Juristendeutsch, Paragrafenreiterei und anhaltender Trockenheit. Wieso ist es so wichtig, dass die Medien über das berichten, was sich in den Gerichtssälen abspielt?
Hürlimann: «Wie bereits erwähnt: Die Gerichte sind die dritte Gewalt im Staat. Kaum jemand aus der Bevölkerung hat Zeit, sich in einen Gerichtssaal zu setzen und zu schauen, wie die Gerichte funktionieren, ob sie ihre Aufgabe zufriedenstellend erfüllen. Die wenigsten Leute wissen, dass fast alle Prozesse öffentlich sind, für jedermann zugänglich. Das ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Wir Journalisten und Journalistinnen übernehmen hier eine Brückenfunktion. Wir berichten aus den Gerichtssälen, von der Arbeit der Richter und Richterinnen, und machen damit das Funktionieren der dritten Staatsgewalt transparent und nachvollziehbar. Das dient dem Rechtsfrieden im Lande. Und führt im besten Falle dazu, dass die Rechtskenntnisse in der Bevölkerung steigen.»

Können Sie ein Beispiel nennen für Ihre Rolle als «Public Watchdog» im Gerichtssaal?
Hürlimann: «Zu einer grossen Kontroverse hat kürzlich mein ‚Republik‘-Artikel über jenen Zürcher Bezirksrichter geführt, der an einem Strafprozess gegen eine Klimaaktivistin erstens einen Freispruch fällte und zweitens sagte, er werde fortan friedlich demonstrierende Klimaaktivisten und -aktivistinnen nicht mehr verurteilen, auch wenn die Kundgebung ohne Bewilligung stattgefunden habe. Ich war die einzige Journalistin im Gerichtssaal. Und der Bericht hat im ganzen Land eine hitzige Debatte ausgelöst. Streitpunkt ist: Hat dieser Richter die internationalen und nationalen Gesetze korrekt angewandt – und ist einfach zu einem anderen Schluss gekommen als die meisten anderen Richter, die ähnliche Fälle zu beurteilen haben? Oder war das ein rein politischer Entscheid? Solche Fragen in die Öffentlichkeit zu tragen, ist eminent wichtig. Gerade wenn es im Hintergrund um die grösste Krise aller Zeiten geht: die Klimakrise.»

In einem Kommentar im «Edito» haben Sie einmal die mangelnde Wertschätzung beklagt, die die Gerichtsberichterstatter und Gerichtsberichterstatterinnen in den eigenen Redaktionen erfahren. Woran machen Sie das fest, und wieso ist das wohl so?
Brigitte Hürlimann
: «Die Teams, die für die Gerichtsberichterstattung zuständig sind, werden immer kleiner. Und anders als beispielsweise im Sport- oder Wirtschaftsressort werden Kollegen und Kolleginnen in die Gerichtssäle geschickt, die von Justiz, Straf- und Prozessrecht oder vom Ablauf einer Gerichtsverhandlung keine Ahnung haben. Sie kennen die Regeln und das Vokabular nicht. Das verunmöglicht eine seriöse journalistische Arbeit. Dazu kommt der Zeitdruck. Bei spektakulären Prozessen müssen manche Journalisten und Journalistinnen während des laufenden Prozesses berichten. Dadurch können sie nicht mehr richtig zuhören – geschweige denn sich überlegen, ob sie das Gehörte auch richtig verstanden haben und richtig einordnen können. In fast allen Redaktionen – die ‚Republik‘ ist eine Ausnahme – wird die Gerichtsberichterstattung stiefmütterlich behandelt. Obwohl die Texte unglaublich gut gelesen werden.»

Was war Ihr kompliziertester Fall in den letzten Jahren?
Hürlimann: «Ich begleite seit Jahren den Fall von Brian Keller, der unter dem Pseudonym ‚Carlos‘ schweizweit bekannt wurde. Die Haftbedingungen, denen er jahrelang in der Vollzugsanstalt Pöschwies ausgesetzt war, machen mich heute noch sprachlos. Dass so etwas in der Schweiz möglich ist, hätte ich nie geglaubt. Der junge Mann ist kein Unschuldsengel, das weiss er auch selbst. Doch er hat, wie alle anderen Straftäter auch, Anspruch darauf, fair und menschenwürdig behandelt zu werden – vor Gericht und im Gefängnis. Und dass man ihm eine Chance gibt, ihn wieder in die Gesellschaft aufnimmt, wenn er seine Strafe abgesessen hat. Solche rechtsstaatlichen Grundsätze müssen wir Journalisten und Journalistinnen immer und immer wieder betonen. Und den Finger darauflegen, wenn sie verletzt werden.»