Wer Storytelling pflegt und Spielfilm-Sätze mag – wie es viele Medienschaffende tun –, hat im Bundeshaus zu Bern hin und wieder eine schwere Zeit.
Da stehen die Herren Ständeräte und Damen Nationalrätinnen vor dem Plenum, klammern sich ans Rednerpult, vergraben ihren Blick in ihren Skripten und lesen vor ab Blatt und in einer Monotonie, dass daneben selbst die Siris und Alexas dieser Welt leibhaftig zu werden drohen.
Sich Ergriffenheit oder gar Begeisterungsstürme von den Sachwaltern der Rechtssetzung zu erhoffen, wäre natürlich fehl am Platz. Ist ja keine Talkshow, kein Theater. Und doch geht es längst nicht nur um Entertainment. Sondern um Effizienz.
«Der Verzicht auf Redemanuskripte führt zu lebendigeren und gleichzeitig kürzeren Debatten und hilft mit, dass nicht eine ganze Reihe von RednerInnen die gleichen Argumente abliest, wie das zum Beispiel oft bei Debatten zu einer Initiative passiert», begründete Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli am Donnerstag die Initiative, mit dem er seinem Kollegium das Ablesen vom Manuskript verbieten wollte.
Aber es gehe ihm nicht nur um kürzere und schon gar nicht um spannendere Debatten («Wir sind ja nicht zur Unterhaltung hier»), sondern um «verständlichere Debatten, die das Wesentliche herausschälen und die auch für die Menschen, die zuhören und zuschauen, verständlicher sind», sagte Glättli zum Auftakt einer Debatte, die an Unterhaltsamkeit seinesgleichen sucht.
«Herr Kollege Glättli», kokettierte zum Beispiel der grünliberale Beat Flach, «ich gehöre ja auch zu denen, die gerne frei sprechen, und ich höre Ihnen auch gerne zu. Manchmal möchte ich am Ende Ihrer Ansprachen gerne noch das ‚Amen‘ hören. Aber meinen Sie nicht...» Worauf Glättli keck dazwischenrief: «Für das ‚Amen‘ sind Sie heute zuständig!» Worauf der erste Vizepräsident Martin Candinas ordnungsgemäss intervenierte: «Die Frage!». Worauf Flach ungerührt fortfuhr: «...wenn Sie die freie Rede für alle Ratsmitglieder verpflichtend machen wollen, dass Sie damit einfach überschiessen und dass dies auch gegenüber jenen Personen nicht gerecht ist, die sich halt einfach sicherer fühlen und für die Genauigkeit der Formulierungen der Gesetze halt eben ablesen wollen – ohne einen Polizisten, der hinter ihnen schaut, ob sie ablesen oder nicht?»
Und so ging das hin und her, es war ein Kommen und Gehen auf dem Podium, die Redner (ausschliesslich Männer!) gaben sich im Minutentakt das Mikrofon in die Hand, es war eine wahre Freude, ein Fest der Prägnanz, eine Sternstunde der Rhetorik – mit nur einer Ausnahme: dem Bittsteller Glättli selbst, der mit seiner Erziehungsmassnahme immer mehr in Rechtfertigungsnöte geriet.
So hatte FDP-Mann Kurz Fluri denn auch ein leichtes Spiel, wechselte elegant auf die Metaebene und haute seinem Kollegen die geforderte Kürze um die eigenen Ohren: «Herr Glättli, Sie gehen davon aus, dass die freie Rede automatisch kürzer und stringenter sei. Klammerbemerkung: Sie haben zwar vorhin mit Ihrer Antwort auf die Frage von Herrn Nordmann das Gegenteil bewiesen. Aber nun eine abstrakte Frage: Haben Sie empirische Belege dafür, dass es nicht so ist, dass die freie Rede häufig auch in zielloses, polemisches Geschwafel ausartet?», worauf der 200-köpfige Gesetzgeber kurz in Heiterkeit ausbrach – wie erschrocken über den eigenen Humor.
Nur 30 Nationalräte und Nationalrätinnen waren schliesslich bereit, sich das Manuskript verbieten zu lassen. 129 klammerten sich dagegen ans gute, alte Papier. 32 weiteren war es wurst.
Die Revolution im Ratssaal ist gescheitert. Doch allzu progressiv war Glättlis Vorpreschen ohnehin nicht. Im ersten Reglement des Nationalrats vom 9. Juli 1850 war in Artikel 44 festgehalten: «Die Ablesung einer Rede ist untersagt.»