«Wir schaffen das», ganz ohne Wenn und Aber: Getreu dem Motto von Bundeskanzlerin Angela Merkel verzichteten deutsche Medien in ihrer Flüchtlingsberichterstattung im Sommer 2015 fast durchgehend auf Kritik an der Willkommenskultur und verhinderten so einen demokratischen Diskurs.
Dies zeigen die nun veröffentlichten Zwischenergebnisse einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung. Das Dokument gehöre zur Grundausbildung für Qualitätsjournalismus, findet die Klein Report-Kolumnistin und Medienexpertin Regula Stämpfli.
34 000 Presseeinträge: So viele Medienberichte wertete Michael Haller und sein Team von der Hamburg Media School zur Berichterstattung zur Flüchtlingspolitik von 2009 bis 2015 aus. Das Fazit der Studie wird mit einem Zitat von Mathias Döpfner gefasst: «Manche Journalisten verstehen sich inzwischen als Politikberater und betreiben einen Journalismus, der sich an ein paar Eingeweihte richtet, denen sie Codewörter zurufen. Der eigentliche Empfänger ist nicht mehr der normale, intelligente, aufgeschlossene, aber nur bedingt informierte Leser, sondern die Kollegen, Politiker, Künstler oder Wirtschaftsführer.»
Dies bestätigt meine These, die ich hier bereits besprochen und untersucht habe: Das Problem der Mediendemokratie besteht nicht einfach in «Fake News» oder einem Twitter-Präsidenten, sondern ist struktureller Natur. Die Hinwendung der politischen Berichterstattung auf Narrative untereinander, die Erstarrung der Journalisten angesichts der wirtschaftlichen und politischen Elite sowie die Beziehungs- und Unterrichtsnähe zwischen Journalismus und PR gestalten Fiktionen, die keinen Kriterien kritischer und demokratischer Berichterstattung gerecht werden.
Eine Medienberichterstattung muss immer auch ein Korrektiv zur ungleichen Verteilung der kommunikativen Artikulationschancen in der Öffentlichkeit sein: «Das bedeutet, dass alle relevanten Positionen gleichermassen zu beachten sind - nicht in erster Linie gemäss der Häufigkeit oder Lautstärke ihrer Artikulation, sondern vor allem auch hinsichtlich der Qualität ihrer Begründungen.»
Dies sei im untersuchten Beispiel nicht der Fall. «Willkommenskultur» sei als Begriff seit 2009 - vorformuliert von der Finanz- und Wirtschaftselite im Hinblick auf den internationalen Wettbewerb um Fachkräfte - von den Journalisten völlig unkritisch übernommen und verbreitet worden. 2015 folgte dann der Höhepunkt: 82 Prozent (!) aller Beiträge in den untersuchten Medien im Sommer 2015 berichteten ausschliesslich positiv über die Willkommenskultur Deutschlands, ohne diese tatsächlich auch zu überprüfen.
Hunderttausende von Menschen mussten innert kürzester Zeit Unterkunft, Verpflegung, Krankenvorsorge suchen und in sozialen und psychosozialen Einrichtungen untergebracht werden. Dabei interessierten sich die Medien überhaupt nicht für das «Wie». Im August 2015 titelte etwa «Die Zeit»: «Willkommen!» So haben sich alle untersuchten Leitmedien das Motto der Kanzlerin «Wir schaffen das» ohne Wenn und Aber zu eigen gemacht, ohne auf den tatsächlichen Vollzug der Politik vor Ort zu schauen.
Ganz abgesehen von der Frage, ob sich Qualitätsmedien selbst in «guter, demokratischer Politik» zum Sprechrohr der Regierung machen sollten, belegt die Studie, dass sich Leitmedien punkto Flüchtlingspolitik im Sommer 2015 wenig um kritische Berichterstattung mit eigenen Reportagen und Recherchen mit detaillierter Beleuchtung der Hintergründe bemühten, sondern sich ausschliesslich um sich selber und die Diskursthemen drehten.
«Wir schaffen das» wurde nicht mit der Frage «wie», «wo» und «von wem» untersucht, sondern - der Regierungspropaganda nicht unähnlich - wieder und wieder wiederholt. Es gab kaum Recherchen vor Ort, es gab kaum Berichte der Überforderung von Flüchtlingen, Betreuern, Behörden, es gab kaum Berichte über die lokalen Probleme mit der betroffenen Bevölkerung.
Dass die Realpolitik und deren Behörden, Sozialeinrichtungen und Menschen innert weniger Wochen mit zusätzlichen Hunderttausenden von Menschen in unzähligen Sprachen verhandelten, diese unterbrachten, organisierten, ernährten, versorgten und was dies alles bedeutete, fand in der Medienberichterstattung schlicht nicht statt. So wurde die Überforderung der Behörden, die Frustration der Hilfe leistenden Bürger und Bürgerinnen, die Notlage der Flüchtlinge nach gelungener Flucht überhaupt nicht thematisiert. So fehlte selbstverständlich auch der Druck auf die Politik, den Kommunen zu Hilfe zu kommen.
Fazit: «Das Flüchtlingsthema fand in der medialen Öffentlichkeit der Leitmedien (weitgehend) ohne Flüchtlinge statt. Dies gilt noch ausgeprägter für die Menschen, die es als Anwohner, Nachbarn, Helfer, Widersacher usw. unmittelbar mit den Vorgängen rund um die Flüchtlinge zu tun bekamen.» Die Regierungsparteien dominierten den Diskurs, die klassischen Leitmedien steckten in der Filterblase fest.