Gefährden Enthüller wie Wikileaks die Regierbarkeit demokratischer Staaten? Oder stellen sie Transparenz her in Bereichen, in denen zu vieles geheim ist? Darüber debattierten Wissenschaftler an einer Tagung zur Medienethik in München. Roger Blum berichtet für den Klein Report.
«Für den Staat muss es Geheimnisse geben», sagte der Politologe Manfred Mai, Professor an der Universität Duisburg-Essen. Demgegenüber vertraten die Medienprofessoren Friedrich Krotz (Universität Bremen) und Caja Thimm (Universität Bonn) vehement die gegenteilige Meinung. Friedrich Krotz argumentierte, wir seien in der Postdemokratie angekommen, in der die demokratischen Staaten Machtstrukturen zementieren, sich immer enger mit der Wirtschaft verzahnen und ihre Transparenz verlieren. Es sei nicht zwingend, dass sich demokratische Staaten hinter Geheimnissen verschanzen. Auch seine Kollegin Caja Thimm wertete es als positiv, dass das bisher als selbstverständlich geltende Recht auf staatliche Intransparenz durch Wikileaks in Frage gestellt wurde.
Beide Professoren warfen einen kritischen Blick auf die Medien. Friedrich Krotz sagte, die kommerziellen Medien ordneten sich immer mehr ihren Geschäftsmodellen unter und richteten sich nur auf ihre Zielgruppen aus. Die Berichterstattung werde immer staats- und wirtschaftskonformer. Politische Information werde nur noch für kleine Gruppen geliefert. Die Medien hätten den Kontakt zu den Jugendlichen verloren und im Fernsehen stehe Reality-TV im Vordergrund. Diese Verengung rufe nach neuen Kommunikationsformen, und viele Menschen würden heute das Internet als geradezu naturgegebene Wirklichkeit begreifen. Caja Thimm fand, Wikileaks habe die Macht des Netzes aufgezeigt. Diese Macht eröffne den Bürgerinnen und Bürgern die Chance auf mehr Transparenz und erzeuge eine neue digitale Öffentlichkeit, die die hermetische Abgeschlossenheit der Politik beende.
Umgekehrt waren die Qualitätsmedien die grossen Gewinner der Enthüllungen, analysierte Thimm. Nur durch ihre Auswahl und durch ihre Einordnung sei die Publikation der Diplomaten-E-Mails für das Publikum überhaupt verkraftbar und verständlich gewesen. Sie kritisierte, dass die fünf Printmedien «Der Spiegel», «Le Monde», «El Pais», «The Guardian» und «The New York Times» die Wikileaks-Enthüllungen exklusiv erhielten. Diese Bevorzugung verstosse gegen medienethische Kodizes und sollte die Presseräte beschäftigen. Ferner forderte sie, dass die kontinentaleuropäischen Länder nach dem Vorbild der USA und Grossbritanniens die Whistleblower - also die Informanten, die Missstände enthüllen - besser schützen.
Der Journalist und Journalistikprofessor Michael Haller (Universität Leipzig) hatte mit Mitarbeitern fünf überregionale deutsche Qualitätszeitungen und 61 Blogs darauf hin untersucht, wie sie die Wikileaks-Enthüllungen bewerteten. Das Ergebnis: Zeitungen kommentierten den Vorgang als Beleg für die Bedeutung des Informationsjournalismus. Die Blogger hingegen betonten die basisöffentliche Selbstaufklärung im Netz und kritisierten, dass die fünf Zeitungen, welche die Informationen exklusiv hatten, Schleusenwärter spielten. Haller stellte ebenfalls beträchtliche Regelverstösse gegen die Medienethik fest.




