Ein Artikel zu einem Femizid in Binningen, der im Februar 2024 begangenen worden ist, hat 20min.ch später aus einem Bundesgerichtsurteil zitiert.
Der Artikel von Lukas Hausendorf vom 11. September 2024 mit dem Titel «Ehemann hat Leiche von Miss-Schweiz-Finalistin zerstückelt». Die Gerichtsakten enthielten «neue Details» zur Tat, schrieb der Journalist.
Der mutmassliche Täter, der Ehemann des Opfers, hatte sein Haftentlassungsgesuch bis ans Bundesgericht weitergezogen. Aus dem Urteil des Bundesgerichts gehe hervor, so schreibt der Journalist, dass der Ehemann während einer Tatrekonstruktion die Tat gestanden und Notwehr geltend gemacht habe. Zuvor habe er noch behauptet, sie tot aufgefunden und sie «in Panik in der Waschküche zerstückelt […] und in einer Chemikalie aufgelöst» zu haben. Neu behaupte der Mann, seine Frau habe ihn «unvermittelt mit einem Messer angegriffen», worauf er sie umgebracht habe.
Gemäss der Stellungnahme des Presserats vom Dienstag habe der Journalist diverse drastische Details aus dem Obduktionsbericht zitiert, um zu illustrieren, auf welch grausame Art der mutmassliche Täter versuchte, die Leiche zu beseitigen.
Gemäss Obduktionsbericht sei das Vorgehen planmässig und systematisch gewesen, was einer spontanen Panik-Reaktion widerspreche. Ausserdem sei der Mann bereits aktenkundig gewesen wegen Gewalttätigkeit gegen seine Frau. Das Kantons- wie das Bundesgericht hätten das Haftentlassungsgesuch abgewiesen. «Die Anklage sei noch nicht erhoben worden. Das Opfer wird konsequent K. J. oder ehemalige Miss-Schweiz-Finalistin genannt», so der Presserat.
Der Online-Artikel auf 20min.ch sei mit mehreren Fotos bebildert, «eines zeigt die Strasse mit einem Strassenschild und dem Haus, in dem die Tat stattgefunden hat», heisst es dazu. Auf weiteren Fotos sei das Opfer – zum Teil zusammen mit dem Ehemann – zu sehen, die Gesichter verpixelt.
Der Artikel wurde mit einer Infobox ergänzt, worin 20min.ch potentielle Opfer auf verschiedene Organisationen hinweist, die Trauerbegleitung und Beratung anbieten.
Zum gleichen Femizid berichtete auch das Online-Portal nau.ch. Lina Schlup schrieb am 14. September 2024 unter dem Titel «Ex-Miss-Finalistin (†) getötet: ‚Nie gesagt, was sie durchmachte’» einen Artikel dazu. Einen weiteren Artikel publiziert nau.ch am 20. September 2024 mit dem Titel: «K.J.* ermordet: Vater machte grausigen Fund in Müllsack».
Gegen diese drei Artikel reichten die Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein und das Frauenhaus beider Basel eine Beschwerde ein. Die drei Artikel verletzten mehrfach die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
Kritisiert wird der Artikel von 20min.ch. Er verstosse mit der Erwähnung diverser identifizierender Details («Miss-Schweiz-Finalistin», Ortsangabe «Binninger Villenviertel», dem Foto mit dem Haus und dem lesbaren Strassenschild) gegen die Richtlinien 7.1 (Privatsphäre) und 7.2 (Identifizierung). Und die Menschenwürde und der Opferschutz würden verletzt, weil jedes Detail der Ermordung und Beseitigung des Opfers erwähnt werde. «Es sei öffentlich gemacht worden, dass das Opfer zerstückelt worden sei – die detaillierte Beschreibung dessen sei jedoch unnötig und verstosse gegen die Menschenwürde des Opfers», schreibt der Presserat zur Beschwerdeneingabe.
Zudem sei erwähnt worden, dass das Opfer zwei Töchter hinterlasse. «Dies verstosse gegen Richtlinie 7.3 (Kinder), wonach Kinder besonders zu schützen sind. Zusammen mit der Beschreibung des Wohnortes sei es ein Leichtes, die Kinder und deren Kindergarten zu identifizieren», heisst es.
Der Rechtsdienst der TX Group, zu dem «20 Minuten gehört», nahm zur Beschwerde gegen den Artikel von «20min.ch» Stellung und beantragte deren Abweisung, sofern überhaupt darauf einzutreten sei.
«Es habe keine Verletzung der Privatsphäre stattgefunden, weder durch die Nennung des Wohnsitzes noch durch das Foto, das den Strassennamen enthalte. Der Tatort sei nur abstrakt als Binninger Villenhügel beschrieben worden, die Bilder zeigten nichts, was den Privatbereich des Opfers tangiere. Die übrigen Bilder seien anonymisiert worden, womit keine Rechte am eigenen Bild verletzt worden seien», so die Begründung.
Es habe auch keine unzulässige identifizierende Berichterstattung (7.2) stattgefunden. Das Opfer habe durch die Miss-Schweiz-Finalteilnahme bereits mediale Bekanntheit erlangt. Zudem seien weitere Artikel über ihre Tätigkeit als Model und später als Catwalk-Coach erschienen. Deshalb seien die gemachten Angaben vertretbar gewesen, argumentiert der Rechtsdienst.
Die Identifizierung sei mehr der identifizierenden Berichterstattung ausländischer Medien und anderer Personen des öffentlichen Lebens zuzuschreiben. Zudem habe eine Internetsuche mit den genannten Schlagworten zum damaligen Zeitpunkt zu keinen identifizierenden Resultaten geführt, heisst es von Seiten der TX Group.
Zum Thema Kinder (7.3) meint der Rechtsdienst. Der Artikel enthalte keine Angaben, die zur Identifizierung der Kinder beitragen würden – weder betreffend Alter noch Erziehungseinrichtung. Die Erwähnung, dass das Opfer zwei Kinder habe, stelle noch keine Identifizierung dar. Man habe im Gegensatz zu Mitbewerbern auch bewusst auf Abbildungen von Kleinkindern verzichtet. Demnach entspreche der Artikel der journalistischen Sorgfaltspflicht.
Auch Richtlinie 8.1 (Menschenwürde) und 8.3 (Opferschutz) würden nicht verletzt.
In der Stellungnahme heisst es: «Die Beschwerdegegnerin räumt ein, dass ‚eine detaillierte Beschreibung sämtlicher todes- und nicht todesursächlicher Verletzungen ante mortem sowie der post mortem unternommenen Schritte zur Beseitigung des Opfers eine sensationelle Beschreibung darstellen würde, die das legitime Informationsbedürfnis‘ übersteigen und ‚das Opfer zum blossen Objekt degradieren und in seiner Menschenwürde verletzen würde‘. Umgekehrt wäre es ‚verzerrend, verkürzt und wahrheitswidrig, wenn vorgeworfene Taten beschuldigter Personen durch Weglassungen verständnisnotwendiger Elemente beschönigt, die besondere Schwere und Grausamkeit der Tat unterschlagen‘ würde. Zumal von Gerichten und Medien auch verlangt werde, über Femizide nicht verkürzend und dadurch beschönigend zu berichten. In diesem Fall beschränke sich die Beschreibung der Tat, der Methoden und Tatmittel auf das Notwendigste. Notwendig, um ein ‚planmässiges, empathieloses, kaltblütiges und mit äusserst hoher krimineller Energie durchgeführtes Vorgehen des mutmasslichen Täters‘ zu erklären.»
Der Presserat antwortet unter anderem so darauf: «Die Argumentation der Medienhäuser, sie hätten so berichtet, weil es wichtig sei, über Femizide zu berichten und es werde verlangt, ‚nicht verkürzend und damit beschönigend zu berichten‘ (Argument von 20min.ch), ist nicht nachvollziehbar. Selbstverständlich ist es von öffentlichem Interesse, über Femizide zu berichten und auf die Problematik hinzuweisen. Die beanstandeten Artikel tun aber letztlich genau das Gegenteil und lassen Sensibilität und Respekt gegenüber dem Opfer und den Angehörigen vermissen.»
Die Beschwerde wird in der Hauptsache gutgeheissen. «20min.ch» hat mit dem Artikel «Ehemann hat Leiche von Miss-Schweiz-Finalistin zerstückelt» vom 11. September 2024 die Ziffern 7 (Identifizierung / Kinder) und 8 (Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
«Nau.ch» hat mit den Artikeln «Ex-Miss-Finalistin (†) getötet: ‹Nie gesagt, was sie durchmachte›» vom 14. September 2024 sowie «K.J.* ermordet: Vater machte grausigen Fund in Müllsack» vom 20. September 2024 die Ziffern 7 (Identifizierung / Kinder) und 8 (Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.




