Der Klein Report berichtete: Der «Swiss Democracy Passport» soll via EDA in den Schweizer Botschaften verteilt und in Luzern am 10. Weltforum für Direkte Demokratie 2022 aufliegen. Es ist eine 48-seitige Broschüre über die direkte Demokratie Schweiz, verfasst von der Schweizer Demokratie Stiftung und dem Année Politique der Universität Bern.
Die Broschüre feiert «175 Jahre direkte Demokratie Schweiz» und ist fast frauenfrei, sowohl was die Gestaltung als auch den Inhalt betrifft. Eine Einschätzung und ein Kommentar der Politphilosophin Dr. Regula Stämpfli für den Klein Report.
So schnell kann es also gehen. Das mit den Mädchen und den Frauen. Gestern noch Demokratie, heute Frauengefängnis und Vernichtungslager für das weibliche Geschlecht. Die Rede ist nicht nur von Afghanistan. Die Taliban sind zwar die offensichtlichsten Frauenhasser, mit Gewehr, Staat und islamistisch-international unterstützt. Doch sie sind nicht allein. Es gibt sie in unterschiedlichen Varianten auch im Westen. Damit sind nicht einfach die klassischen Frauenhasser unter den Rechtspopulisten, Incels (unfreiwillig zölibatäre Misogynisten) oder Game-Cocks (frauenverachtende Gamer) gemeint. Frauenverachtung gibt es auch unter den linken, liberalen und sich im Namen der Demokratie brüstenden Anzugträger.
«Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt» – unter diesem Titel erzählt die grosse Lektorin, literarische Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert ganz aktuell über «Frauen-Literatur». Sie berichtet, wie hochgebildete, sehr reflektierte Männer das Schaffen von Frauen in Literatur, Philosophie und Politik einfach ignorieren, lächerlich machen oder ganz bewusst abwerten.
All dies leisten sich die Beteiligten beim «Swiss Democracy Passport» auch. Frauenexistenzen werden mit Nebenbemerkungen abgekanzelt. Der misogyne «Pass für alle» (Zitat «Swissinfo») verkörpert das totalitäre Verständnis der Experten bezüglich der Männerdemokratie Schweiz. Es ist kein Versäumnis, kein Fehler, kann auch nicht entschuldigt werden, sondern gehört auf den Müllhaufen zutiefst frauenverachtender Publikationen.
Meine Mutter durfte nicht über ihr eigenes Bankkonto verfügen, meine Grossmutter musste zusehen, wie ihr Ehemann all ihr Erspartes versoff und sowohl sie als auch die gemeinsamen Kinder fast zu Tode prügelte: alles normal und im Männerstaat Schweiz bis 1971 rechtens. Mein Patenonkel war ein Verdingkind, dessen Mutter mangels politischer Rechte in eine Psychiatrie gesteckt wurde. Er selber und viele ähnliche Kinder wurden von der «eidgenössischen Direktdemokratie» geprügelt, missbraucht und als Gratis-Arbeitskraft fast zu Tode geschindet. Mein Patenonkel durfte seine Mutter nie mehr sehen. Es gibt unzählige solcher Traumata und sie hängen direkt mit den fehlenden Frauenrechten in der Schweiz bis 1971 zusammen.
Ein Staat ohne Frauenrechte ist keine Demokratie, sondern eine Geschlechterdiktatur. Fehlende Frauenrechte sind auch kein «Dilemma der direkten Demokratie», sondern strukturell. Meine Kolleginnen und ich und die Gigantinnen der letzten Jahrhunderte vor uns haben tausende von Aufsätzen, Büchern und Essays zum Thema Politik, Kultur, Gleichstellung oder Demokratie verfasst. Kein einziger der Autoren dieses «Pass für alle» (Zitat «Swissinfo») zitiert die Klassikerinnen der Demokratiegeschichte der letzten zweihundert Jahre oder gar die prominenten Zeitgenossinnen. Im Gegenteil: Sie alle werden bewusst vergessen, verschwiegen, unterdrückt und politologisch als «Dilemma» eines grundsätzlich gut funktionierenden Systems, ja sogar als «Demokratie» abgehakt.
Hannah Arendt beschrieb den Totalitarismus unter anderem damit, dass die Verantwortlichen darin geübt waren, so zu tun, als sprächen sie die Wahrheit. Sie agierten in Wirklichkeit aber durch Auslassungen ganzer Gruppen sowie die Betonung einzelner Tatbestände. Genau dies tun die Beteiligten an diesem «Pass für alle» auch. Die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz ist die Geschichte der staatlichen, politischen, gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Männergewalt in unserem Alpenstaat. Dies zu verschweigen, kommt einer bewusst frauenfeindlichen und antidemokratischen Männergeschichtsschreibung gleich.
Der «Pass für alle» ist also kein «Märchen» (Zitat «Swissinfo»), sondern ein Frauen-Albtraum im Jubiläumsjahr 2021. Straflose Vergewaltigungen in der Ehe, fehlende Erb- und Vermögensrechte, fehlende Bürger- und Sozialrechte, fehlende Berufs- und Wissenschaftsfreiheiten, fehlende Würde, fehlende Rechtsansprüche an die Demokratie, fehlende politische Gestaltungs- und Handlungsfreiheiten und vieles andere mehr bis ins Jahr 1971 sind strukturell und keine Nebensächlichkeit!
Die politische Geschichte der direkten Demokratie Schweiz ist eine Geschichte von Traumatisierungen, übelsten Menschenrechtsverletzungen und erzählt von sklavenähnlichen Zuständen gegenüber den Frauen und anderen sogenannten Minderheiten. Initiative und Referendum bereichern das politische System nur in ganz klar definiertem Rahmen – so, wie ich sie beispielsweise 2009 in der Konstitution der Europäischen BürgerInnen-Initiative ECI, der «European Citizen Initiative» in Brüssel und für die Europäische Kommission formuliert habe.
Der «Pass für alle» ist eine Warnung an alle Frauen: Denn die Leerstellen in der Broschüre sind keine Nebensächlichkeiten und sie betreffen nicht nur Feministinnen, Politologinnen, Aktivistinnen. Sie sind strukturell antidemokratisch, sexistisch, frauenverachtend. Der «Pass für alle» ist eine Festschreibung und Fortschreibung weiblicher Nicht-Existenzen für die ganze Welt. Er muss sofort zurückgezogen werden und, falls es doch einen «Pass für alle» geben soll, dann soll dieser doch von Zita Küng, erste Preisträgerin des Emilie Kempin-Spyri Preises dieses Jahr, verfasst werden. Küng erhielt zudem den Ida-Somazzi-Preis und ist Präsidentin des Vereins zum Frauenstimmrechtsjubiläum CH2121.
Buch zum Jubiläumsjahr: «50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung», Zürich, Limmat Verlag 2021.
Regula Stämpfli betreibt unter anderem mit Dr.phil. Isabel Rohner den allwöchentlich beliebten feministischen Podcast «Die Podcastin».