In der grossen Jahresumfrage des Klein Reports mit einem Blick zurück ins 2024 und mehreren nach vorne, haben Simon Wenger und Ursula Klein mit Ursina Wey, Geschäftsführerin des Presserats, gesprochen.
Wie entwickelt sich das Selbstkontrollorgan der Branche? Weshalb wurde die Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen verschärft? Und wie soll eine Beschwerde formuliert werden? Die Rechtsanwältin gibt Antworten.
Wie hat sich die Zahl der Beschwerden im vergangenen Jahr entwickelt?
Ursina Wey: «Die Anzahl der Beschwerden, die beim Presserat eingehen, bewegte sich lange um die 80 pro Jahr. Ab dem Jahr 2017 folgte ein Anstieg um 50% auf jährlich 120 Beschwerden. Nach einem ausserordentlichen Anstieg in den Corona-Jahren 2020 (181) und 2021 (159) pendelte sich die Beschwerdeanzahl bei rund 120 beziehungsweise 130 im Jahr 2024 ein. Im laufenden Jahr beobachten wir erneut einen sprunghaften Anstieg um rund 50%.»
Wie beurteilen Sie diese Entwicklung aus Sicht des Selbstkontrollorgans der Schweizer Presse?
Ursina Wey: «Die Entwicklung der Fallzahlen lässt einerseits auf eine zunehmende Bekanntheit des Presserats schliessen. Andererseits zeigt sich darin auch die seismographische Funktion, die die Beschwerdemöglichkeit an den Presserat darstellt. In unsicheren Zeiten ist das Bedürfnis nach einer Referenzinstanz vermehrt spürbar. Die Zahlen zeigen, dass dem Presserat sowohl für den Journalismus wie auch für die Öffentlichkeit eine unverzichtbare Bedeutung zukommt. Er spielt eine entscheidende Rolle für die Pflege der Medienkompetenz und Medienqualität. Diese Entwicklung ist deshalb auch ein klares Signal an die Branche, die Politik und die Öffentlichkeit, die institutionellen und finanziellen Voraussetzungen dafür zu sichern, dass dem Presserat für die Erfüllung seiner zentralen gesellschaftlichen Aufgabe die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stehen.»
Der Presserat hat die Richtlinie zur Anhörungspflicht bei schweren Vorwürfen verschärft. Neu reicht bereits ein «gravierendes Fehlverhalten», bisher musste es einem «kriminellen Verhalten» ähnlich sein. Was war der konkrete Auslöser, dass der Presserat die Richtlinie verschärft hat?»
Wey: «Das Plenum des Presserats hat die Diskussion darüber geführt, wann die Anhörungspflicht eigentlich zum Tragen kommen soll. Es gab teilweise Unklarheiten beziehungsweise unbefriedigende Ergebnisse bei der Auslegung der Anhörungspflicht. Die neue Formulierung orientiert sich an der etablierten journalistischen Praxis.»
Wie wirkt sich die neue Regelung auf die Diskussionen im Presserat und seine Stellungnahmen aus?
Ursina Wey: «Der Presserat hat erste Entscheide gestützt auf die neue Regelung gefällt. Dabei hat sich gezeigt, dass eine genaue Formulierung der Beschwerde wichtiger wird. Oder anders ausgedrückt: Wenn in der Beschwerde nicht klar benannt wird, worin der schwere Vorwurf mutmasslich liegt, ist es für den Presserat schwierig, einen Entscheid zu fällen.»
Immer mehr Unternehmen setzen Sperrfristen. Richtlinie 4.4 des Journalistencodex schützt die Sperrfristen explizit. Wie beurteilen Sie aus Sicht des Presserats die Einhaltung der Sperrfristen durch die Medienbranche?
Ursina Wey: «Zur Frage der Sperrfristen hat sich der Presserat kürzlich in einem Leitentscheid (Stellungnahme 27/2024) geäussert: Sperrfristen dienen dazu, zu klären, wann eine Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll und darf. Sie beinhalten jedoch kein Recherchierverbot: Medien dürfen noch während der Sperrfrist zu dem betreffenden Thema recherchieren. Sperrfristen sollten grundsätzlich eine Ausnahme darstellen. Und gelten nur dann als zumutbar, wenn überwiegende Interessen gegen eine umgehende Publikation sprechen. Nicht zumutbar sind sie dann, wenn sie bezwecken, ein Medium einseitig zu bevorteilen, oder wenn mit der Sperrfrist versucht wird, die Veröffentlichung einer Information hinauszuzögern. Offensichtlich halten sich die Medien meist an Sperrfristen, da in den letzten Jahren vor dem erwähnten Entscheid keine Beschwerde eingegangen ist, die eine Verletzung der Sperrfrist moniert hat.»
Es kommt immer wieder vor, dass die Sperrfristen nicht für alle Redaktionen gleichermassen gelten, oder dass Medienmitteilungen nicht allen Medien gleichzeitig zur Verfügung gestellt werden. Was sagt der Presserat zu solchen Fällen?
Ursina Wey: «Wie oben ausgeführt ist eine einseitige Bevorteilung oder Benachteiligung einzelner Medien durch Sperrfristen medienethisch nicht akzeptabel. Sperrfristen dürfen den Wettbewerb zwischen Medien nicht beeinträchtigen.»
Wo muss sich der Schweizer Presserat aus Ihrer Sicht weiterentwickeln?
Ursina Wey: «Der Presserat braucht qualitativ gute Beschwerden, die es ihm ermöglichen, den medienethischen Diskurs auf hohem Niveau führen und seine Praxis weiterentwickeln zu können. Und so auch Hilfestellung im journalistischen Alltag zu bieten. Als Institution ist er auf eine Organisations- und Finanzierungsstruktur angewiesen, die seine Existenz für die Zukunft sichern. Es braucht ein klares Bekenntnis aller Träger zum Presserat, sowohl medienpolitisch wie auch finanziell. In der sich zunehmend verschärfenden Diskussion um die Zukunft des Journalismus kommt dem Presserat eine zentrale Bedeutung zu: Das Vertrauen in publizistische Medien und damit die Unterstützung von Journalismus steht und fällt mit dessen Glaubwürdigkeit, Transparenz und Professionalität.»
Wie steht der Presserat im Moment finanziell da?
Wey: «Es stehen für die nächsten zwei Jahre genügend Mittel zur Verfügung, um die Arbeit weiterführen zu können. Im Rahmen einer Organisationsanalyse klärt der Stiftungsrat momentan, wie die künftigen Strukturen und die Finanzierung aussehen könnten, um die Existenz des Presserats zu sichern.»
Sie sind Rechtsanwältin und seit mehreren Jahren Leiterin der Berner Geschäftsstelle des Schweizer Presserats. Was fasziniert Sie an dieser Aufgabe?
Ursina Wey: «Ich habe das Privileg, jeden Tag mit neuen Fragen rund um die Qualität von Medien konfrontiert zu sein. Wo liegen die Grenzen journalistischer Sorgfaltspflicht? Gäbe es den Presserat nicht, liefe die Branche Gefahr, durch den Staat reguliert zu werden.»
Wie sehen Sie Ihre berufliche Zufkunft?
Ursina Wey: «Mein Berufsleben ist bestimmt durch mein Engagement für den Presserat.»