Content:

Dienstag
19.06.2012

Vor Ulrich Saxers Zeit war die Publizistikwissenschaft noch in der Steinzeit. Durch ihn ist sie ins Kulturzeitalter eingetreten, und inzwischen ist sie in der Moderne angelangt. Am 8. Juni starb er, 81-jährig, bei einem Aufenthalt bei München. Die Leistungen und die Verdienste des grossen Quereinsteigers um das Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft würdigt Roger Blum im Klein Report.

Der 1931 geborene Ulrich Saxer gehörte noch zu jener Generation von Publizistikwissenschaftlern, die das Fach nicht selber studiert hatten, sondern Quereinsteiger waren. Er studierte in Zürich und London Germanistik, Anglistik und Rechtswissenschaft und nahm ausserdem Gesangsunterricht. Seine Dissertation schrieb er in der deutschen Literaturwissenschaft in Zürich bei Otto Staiger über «Gottfried Kellers Bemühungen um das Theater».

Der Publizistikwissenschaft wandte er sich erst zu, als er Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre als junger Gymnasiallehrer auch journalistisch tätig war. 1966 erhielt er an der Universität Zürich seinen ersten Lehrauftrag zum Thema «Soziologische Aspekte der Massenmedien». Von da an ging sein Weg geradeaus weiter in der Publizistikwissenschaft: 1970 Habilitation, 1973 Assistenzprofessor, 1977 Extraordinarius, 1983 Ordinarius.

Ebenso Quereinsteiger waren seine Vorgänger und Zeitgenossen des Fachs an den Universitäten Zürich, Bern, Freiburg und Lausanne: Juristen waren Oscar Wettstein (Zürich) und Michael Bühler (Bern), Historiker Karl Weber (Zürich und Bern), Siegfried Frey (Zürich und Bern), Christian Padrutt (Zürich) und Peter Dürrenmatt (Bern), Theaterwissenschaftler war Hans Stark (Bern), Ökonomen waren Florian Fleck (Freiburg) und Matthias Steinmann (Bern) und Soziologe war Alfred Willener (Lausanne). Die sieben Erstgenannten betätigten sich zudem aktiv als Journalisten. Erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren stiegen erste Absolventen der Publizistikwissenschaft zu Professoren auf - mit Louis Bosshart 1982 in Freiburg und Heinz Bonfadelli 1994 in Zürich.

Ulrich Saxer hatte grosses Verdienst daran, dass es überhaupt Absolventen gab, die diesen wissenschaftlichen Weg in der Publizistikwissenschaft auf entsprechend hohem Niveau gehen konnten. Er trimmte das publizistikwissenschaftliche Institut in Zürich konsequent auf den sozialwissenschaftlich-empirischen Weg. Er betrieb theoriegeleitete Forschung. Und er trug zur Professionalisierung des Faches in der ganzen Schweiz bei: Zehn Jahre lang stand er als erster Präsident an der Spitze der 1974 gegründeten Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft (SGKM), die am Ende seiner Präsidentschaft ein dickes Buch über den Stand des Fachs und der medienwissenschaftlichen Forschung in der Schweiz herausgab.

Vor 46 Jahren, als Ulrich Saxer seinen ersten Lehrauftrag im Fach Publizistikwissenschaft erhielt, gab es nur drei medienwissenschaftliche Professoren in der Schweiz: in Zürich, in Bern und in Freiburg. Heute sind es über 50 Professuren, und zwar an den Universitäten Zürich, Bern, Luzern, Freiburg, Basel, St. Gallen, Lugano, Lausanne, Neuenburg und Genf sowie an den Fachhochschulen in Winterthur, Zürich, Luzern, Olten und Chur. Das Fach, mehrheitlich sozialwissenschaftlich, teilweise aber auch kulturwissenschaftlich oder betriebswirtschaftlich ausgerichtet, bietet den Studierenden medienwissenschaftliches Grundwissen und bereitet sie so auf eine Laufbahn in der Forschung, im Medienmanagement, in der Öffentlichkeitsarbeit, im Journalismus oder in der Medientechnologie vor.

Ulrich Saxer hat in Zürich, aber auch in der SGKM die Weichen dafür gestellt, dass das Fach Forschungsleistungen von hoher Qualität erbringt. Als das Fach 2004 durch eine internationale Expertengruppe unter der Leitung von Professor Klaus Schönbach (damals Amsterdam, heute Wien) evaluiert wurde, erhielt es recht gute Noten. Die Experten lobten das Niveau von Lehre und Forschung, rieten aber den Schweizer Kommunikations- und Medienwissenschaftlern, sich noch besser zu strukturieren, die internationale Präsenz zu erhöhen und die Vielfalt des Fachs als Stärke auszuspielen.

Die internationale Präsenz trieb bereits Ulrich Saxer voran. Als Erster holte er Anfang der Achtzigerjahre die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) in die Schweiz, die in Zürich über politische Kommunikation debattierte. Er engagierte sich in der Bertelsmann-Stiftung und bei vielen Evaluationen deutscher Hochschulinstitute. Inzwischen ist es Standard, dass junge medienwissenschaftliche Forscherinnen und Forscher auf internationalen Tagungen auftreten und in englischsprachigen Zeitschriften publizieren. Ulrich Saxer hat zudem eine Stiftung gegründet, die Habilitanden fördert.

Mit Saxer begann auch das Engagement der Publizistikwissenschaft in der schweizerischen Medienpolitik. Er und Alfred Willener gehörten als Medienprofessoren der Kommission für die Mediengesamtkonzeption an, die der Zürcher Medienanwalt Hans W. Kopp leitete. Später führte Saxer die Begleitforschung zu den Lokalradioversuchen durch. 1992 verfasste er ein dickes Gutachten zur Presseförderung. Inzwischen ist es Standard, dass parlamentarische Kommissionen, das Bundesamt für Kommunikation oder Medienverbände sich bei den Professoren der Publizistikwissenschaft Rat holen.

Bis 1996 hatte Ulrich Saxer den Lehrstuhl an der Universität Zürich inne. Dann rief die neu gegründete Università della Svizzera italiana den Emeritierten nach Lugano, damit er dort ein kommunikationssoziologisches Institut aufbaue. Mauro Wolf, der dafür vorgesehen war, war überraschend gestorben. Nochmals leistete Saxer bis 2001 Aufbauarbeit. Seither las er regelmässig noch als Honorarprofessor in Wien. Bis vor Kurzem war er Verwaltungsratspräsident der Firma Publicom, die angewandte Medienforschung betreibt.

Viele andere Funktionen gab er ab, um sich konzentriert dem Forschen und Schreiben zu widmen. Er hat fast in allen Bereichen geforscht und danach auch darüber publiziert: Er befasste sich mit dem Fernsehen, dem Buch, der Boulevardpresse, den Lokalradios, der Leseforschung, der Kunstberichterstattung, der Medienpolitik, der politischen Kommunikation, der Mediengefühlskultur. Er äusserte sich zur Systemtheorie, zum Konstruktivismus und zu anderen theoretischen Ansätzen. Nach seiner Emeritierung publizierte er das Buch «Politik als Unterhaltung» (2007). Und diesen Sommer wird im Verlag Springer VS in Wiesbaden das Werk «Mediengesellschaft. Eine kommunikationssoziologische Perspektive» erscheinen, gewissermassen Saxers wissenschaftliches Testament. Seine Bedeutung für das Fach gründete auf der Breite und der Tiefe seines wissenschaftlichen Denkens.

Ulrich Saxers Texte waren nicht immer auf Anhieb zu verstehen. Doch wenn er redete, dann sorgte er mit seiner Rhetorik und mit seinem Witz für hohen Unterhaltungswert. Er war breit informiert und an allem interessiert, auch an den Kleinigkeiten des Lebens. Seine Neugier entsprang immer einer grossen Anteilnahme am Schicksal von Kollegen und Mitarbeitenden. Und mit seinem Humor sorgte er stets für eine heitere Stimmung.

Am Freitag nehmen in der Zürcher Wasserkirche Weggefährten aus Wissenschaft und Gesellschaft vom Publizistikwissenschaftler Ulrich Saxer Abschied.