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Donnerstag
10.03.2022

Medien / Publizistik

Der ukrainische Verleger Oleg Horobets mit einer gedruckten Sonderausgabe seiner Zeitung «20 Khvilin» – Überschrift: «Zum Sieg». (Bild © INMA)

Der ukrainische Verleger Oleg Horobets mit einer gedruckten Sonderausgabe seiner Zeitung «20 Khvilin» – Überschrift: «Zum Sieg». (Bild © INMA)

Verteilnetz und Werbeeinnahmen der ukrainischen Print-Medien sind über Nacht zusammengebrochen. Die User-Zahlen von Websites und Telegram sind stark angestiegen. Zwei betroffene Verleger berichten über den Medienalltag im Ausnahmezustand.

«Die Medienschaffenden sind sehr leidenschaftlich, aber das Problem ist, dass sie nicht lange nur von Leidenschaft leben können. Die Einnahmen aus Anzeigen- und Print-Verkäufen gingen über Nacht auf Null.» 

Das sagt Oleksandr Chovhan. Er ist Vorsitzender der Association of Independent Regional Publishers of Ukraine (AIRPU), die nach eigenen Angaben 20 Verlage in der ganzen Ukraine mit 100 lokalen Nachrichtenmarken vertritt.

Die meisten Zeitungen würden den Druck einstellen, sagt Chovhan weiter in einem Interview, das der internationale Verlegerverband (INMA) online gestellt hat. «Es gibt keine Versorgung mit Zeitungspapier und das Vertriebsnetz ist blockiert.»

Ähnlich tönt es aus dem Mund von Oleg Horobets: «Wir haben eine Druckerei in Winnyzja. Früher haben wir 100 verschiedene Titel pro Woche gedruckt. In der ersten Kriegswoche haben wir nur einen Titel gedruckt», sagt der Geschäftsführer von RIA Media, einem lokalen Verlag mit Sitz in Vinnytsia, 250 Kilomenter südwestlich von Kiew. Er gibt vier regionale Zeitungen unter dem Namen «20 Khvilin» («20 Minuten») heraus und beschäftigt 48 Journalisten.

Schnell mal raus, um eine Zeitung zu kaufen, ist laut Horobets kaum noch möglich: «Kioske sind geschlossen, Kreditkarten funktionieren nicht die ganze Zeit. Die Leute haben sowieso Angst vor Beschuss und gehen so wenig wie möglich raus.» 

Der News-Flow hat sich ganz von der Presse ins Netz verlagert. «Websites und soziale Netzwerke funktionieren einwandfrei», so Oleksandr Chovhan weiter. «Die beste Informationsquelle ist derzeit Telegram und das Fernsehen.»

Auf Telegram aktiv sind die Medien, einzelne Journalisten und auch die Regierung. «In unserer Stadt wurden sogar die Notfallsirenen durch Telegram-Benachrichtigungen ersetzt», so der Präsident des Verbands der ukrainischen Regionalverleger weiter.

Der Verlagsleiter Oleg Horobets beziffert den rasanten Bedeutungsgewinn der digitalen Kanäle: Vor Kriegsbeginn habe der Telegram-Kanal seiner Zeitungen 1000 Follower gezählt, heute seien es 10‘000 Follower. Und die täglichen Seitenaufrufe der Website schnellten von 50‘000 auf 100‘000 hoch.

Auch das Fernsehen sei wichtig. So hätten sich alle grossen TV-Unternehmen zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Nachrichtensendung zu produzieren und auf allen Kanälen auszustrahlen. «Die Qualität ist sehr hoch. Jeder schaut es sich an», sagt Chovhan weiter.

Die meistgelesenen Inhalte sind laut Oleg Horobets heute Community-Ankündigungen. «Die Menschen in Vinnytsia bildeten Dutzende von Freiwilligengruppen, die Waren sammeln und Dienstleistungen für die Selbstverteidigung der Stadt, die Verwundeten und Flüchtlinge erbringen: schusssichere Westen, Stiefel, Lebensmittel, Medikamente, Fahrten von einem Ort zum anderen. Menschen verkünden, was sie haben oder können, und andere verkünden, wonach sie suchen. Sie koordinieren sich online.»

Zudem suchten die Menschen natürlich nach vertrauenswürdigen Nachrichten über die Entwicklung des Krieges. Aber auch Updates über ganz praktische Veränderungen im Alltag seien sehr gefragt: «Die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel haben sich komplett geändert. Trinkwasser wird nur zu bestimmten Zeiten geliefert. Geschäfte öffnen nur wenige Stunden, viele Waren fehlen. Treibstoff und Medikamente gehen zur Neige.»

Viele Leute folgen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Sein Medienteam sendet täglich Nachrichtensendungen auf Telegram.

«Es ist keine Propaganda», sagt Oleksandr Chovhan. «Es ist eine faktenbasierte Berichterstattung, ehrlich und direkt, aber auch humorvoll. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Kriegschroniken todernst und heroisch, jetzt sind sie unterhaltsam und informativ. Selenskyj lässt die Menschen weniger Angst haben.»