Ueli Schmezer, Marco Rima, Nicolas Rimoldi – noch nie haben so viele «Personen des öffentlichen Lebens» sich um einen Sitz im Nationalrat beworben wie bei dieser Wahl. Für Journalistinnen und Journalisten sind solche Berühmtheiten immer wieder eine Gratwanderung in der Berichterstattung. Wie weit darf man gehen? Worüber darf alles berichtet werden?
Personen des öffentlichen Lebens: Das sind Menschen mit einem besonderen Bekanntheitsgrad. Juristinnen sprechen auch von Personen der Zeitgeschichte. Die Kehrseite des Ruhms: Wegen des öffentlichen Interesses dürfen Medien über sie berichten, selbst wenn das den Betroffenen nicht immer genehm ist.
So einfach, wie sich das anhört, ist es dann doch nicht. Immer wieder überschreiten Journalistinnen und Journalisten die Grenzen des Zulässigen und werden juristisch belangt. Der Klein Report sprach mit Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum bei der Steiger Legal AG in Zürich, die unter anderem auf Medienrecht spezialisiert ist.
In der Schweiz gibt es ausser Roger Federer keinen anderen Star. Ist nur Federer eine Person des öffentlichen Lebens?
Martin Steiger: «Nein, natürlich nicht. Wir unterscheiden im Medienrecht zwischen absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte. Um relative Medienbekanntheit zu erlangen, braucht es nicht viel. Nach seinem ‚Kristallnacht-Tweet‘ richtete sich zum Beispiel ein überhöhtes Medieninteresse auf den damaligen SVP-Provinzpolitiker A. Das Obergericht des Kantons Zürich schützte Website-Betreiber und Zeitungsverlage, als sie den Namen veröffentlichten. A. sei eine ‚relative Person der Zeitgeschichte‘, bestätigte das Bundesgericht damals die Einstufung aus Zürich.»
Den Namen darf man also aufführen, gibt es Restriktionen in der Berichterstattung?
Steiger: «Restriktionen kann es bereits bei der Namensnennung geben. Die Berühmtheit ist relativ, gerade auch zeitlich. Früher oder später greift das ‚Recht auf Vergessen‘. In der Sache geht die Intimsphäre jenseits seltener Ausnahmen niemanden etwas an. Genauso ist die Privatsphäre grundsätzlich tabu. Der ‚Blick‘ veröffentlichte 2006 trotzdem Bilder, die den damaligen Bundesrat Moritz Leuenberger in den Ferien am Strand mit Badehosen zeigten. Ein profilierter Bundesrat kann übrigens als absolute Person der Zeitgeschichte gelten und muss sich mehr gefallen lassen, aber eben auch nicht alles.»
Moritz Leuenberger verzichtete aber auf eine Klage…
Martin Steiger: «Die meisten Medienopfer verzichten aus verschiedenen, häufig guten Gründen auf eine Klage. Aber auch für die Medienhäuser kann es teuer werden, wenn sie wegen der widerrechtlichen Verletzung der Persönlichkeit eingeklagt werden. Die Fälle ‚Borer‘ und ‚Hirschmann‘ beispielsweise waren teuer für den Ringier-Verlag, allein schon die Anwaltskosten!»
Aber es gibt ja auch die Neugierde des Publikums, auf die sich Medienschaffende stützen können…
Steiger: «Massgeblich ist das überwiegende öffentliche Interesse, nicht die Neugierde. Die Medien haben eine besondere Rolle in unserem demokratischen Rechtsstaat, nämlich die objektive und unabhängige Information der Öffentlichkeit. Die Medien werden deshalb durch die Bundesverfassung privilegiert. Wenn mich Journalisten um einen Ratschlag für die Berichterstattung bitten, frage ich sie häufig: Benötigt die Geschichte wirklich eine Namensnennung? Geht es nur in erster Linie um Neugierde und Reichweite? Nehmen wir als Beispiel einen Hausabwart, dem gekündigt wurde, weil er aus Frust das Lehrerzimmer unter Wasser setzte. Die Geschichte funktioniert ohne Namensnennung oder identifizierende Angaben. Das Gleiche gilt für die Berichterstattung über Verfahren vor Gericht. Eine allfällige Sanktionierung erfolgt durch den Rechtsstaat und nicht am Pranger von Medien, Social Media oder Suchmaschinen.»
Und wenn der Hausabwart vor fünf Jahren im «Dschungelcamp» aufgetreten ist?
Steiger: «Die Frage ist, wie sich der Hausabwart, damals eine relative Person der Zeitgeschichte, seither verhalten hat. Wenn der Hausabwart nicht mehr die Medienöffentlichkeit gesucht oder hingenommen hat, wäre eine Namensnennung problematisch.»
Mit den sozialen Medien gibt es immer mehr «relative Berühmtheiten». Müssen die sich alle später davor fürchten, wegen kleinen Delikten mit Klarnamen identifiziert zu werden?
Martin Steiger: «Tatsächlich gibt es durch Social Media viel mehr relative Personen der Zeitgeschichte. Und ja, die Neugierde der Öffentlichkeit nehmen Journalistinnen wie Social-Media-Nutzer zum Anlass für fragwürdige Veröffentlichungen. Dabei gibt es klare Grenzen. Zum Beispiel bei Jugendsünden, die per Definition lange zurückliegen, gerade auch, wenn die Person heute anders lebt. Das ‚Recht auf Vergessen‘ hat im digitalen Raum allerdings einen schweren Stand. Die Aussicht auf kurzfristige Aufmerksamkeit verdrängt häufig die mediale und persönliche Ethik.»