Nach einer Woche intensiver Proteste innerhalb und ausserhalb der Hachette Book Group unterbindet das Verlagshaus die schon gedruckte Autobiographie von Woody Allen. «Ein Trauerspiel», titelt die «Süddeutsche Zeitung»: Hachette sende «ein fatales Signal an Missbrauchsopfer und Autoren.»
Wirklich? Die politische Philosophin Regula Stämpfli sieht dies in ihrer Kolumne für den Klein Report komplett anders.
Der Werbespruch «There is no such thing as bad publicity» ist endgültig tot. In den Zeiten digitaler Revolutionen gibt es nur noch eine Regel und die lautet: «Timing.»
Woody Allen und sein Verlag waren sich ihrer Siegerrolle sicher: Dreieinhalb Jahre nach MeToo, ein Jahr nach «Catch and Kill» von Ronan Farrow, der aufzeigt, wie brutal, mächtig und sexistisch Hollywood, ja die gesamte Kulturszene tickt und mitten im Prozess gegen Harvey Weinstein die Autobiographie eines mutmasslichen sexuellen Gewalttäters zu lancieren, ist Hybris pur.
Es belegt nicht nur den Hochmut des Autoren und des Verlags, sondern belegt auch eine abgründige Boshaftigkeit gegenüber allen Opfern, denen nach jahrzehntelangem Schweigen aus der Dunkelkammer der Gewalt endlich zugehört wird.
Daraus zudem eine Debatte über die Freiheit der Kunst zu konstruieren, ist schlichtweg dumm. Denn mittlerweile weiss jede Sechsjährige, dass abstrakte Debatten über Kunst und deren Freiheit tiefe hierarchische, rassistische, frauen- und menschenverachtende Wurzeln im 19. Jahrhundert haben.
Kunst war nie und nimmer frei! Selbstverständlich sollte Kunst frei sein, doch wie in der Politik geht es auch bei der Kunst nicht einfach um «Wahrheit», sondern um Wirklichkeit. Es geht um einen vernünftigen Meinungsaustausch über die öffentliche Sphäre.
Es geht darum, wie sinnvoll es ist im Jahre 2020, in einer Zeit, in der die unsägliche Gewalt an Frauen endlich als «Verbrechen» und nicht als Kavaliersdelikt geahndet wird, für einen 84-jährigen mutmasslichen sexuellen Missbraucher «seine» Version der Geschichte hunderttausendfach drucken zu lassen.
Woody Allens Autobiographie zu diesem Zeitpunkt ist einfach nur eine üble Machtdemonstration. Glücklicherweise ist dieses Machogehabe in den USA nun gestoppt worden. Mal sehen, wie Deutschland und der Rowohlt Verlag reagieren. Dort wird die Autobiographie Allens wahrscheinlich erscheinen.
Aus Rücksicht gegenüber all den Opfern, die jahrelang an den Gewaltakten zu leiden haben, aus Rücksicht gegenüber seiner Tochter und seinem Sohn, selbst wenn er sich unverstanden und verleumdet fühlt, hätte Allen in dieser Situation nur eines tun sollen: schweigen. Dies wäre auch allen Journalisten und Experten zu wünschen, die sich nun in Pose werfen und «Kunstfreiheit» schreien.