Youtuber Rezo beschäftigt die deutsche Mediendebatte: Dessen Clip «Die Zerstörung der CDU» einige Tage vor den Europawahlen wurde zum meistgeklickten Europawahl-Politvideo überhaupt – obwohl das Video eine Unmenge an Quellenhinweisen, politischen Hintergründen und Erklärungen zum demokratischen Entscheidungsprozess enthält und sage und schreibe 55.09 Minuten dauert.
Politologin Regula Stämpfli kommentiert für den Klein Report, wie Politiker und Journalisten den Reality-Check nicht bestanden haben.
Am Dienstag waren es schon zwölf Millionen, Tendenz steigend. Rezo hat das geschafft, wovon alle politisch engagierten Menschen träumen: Aufklärung, Agenda Setting und Handlungsanweisungen in einem.
In Deutschland kam es dieses Wochenende zur Rekordwahlbeteiligung bei einer Europawahl. Die Grünen stiegen zur zweitstärksten Partei im wichtigsten EU-Mitgliedstaat auf. Von einem inhaltslosen Wahlkampf wie noch bei den Bundestagswahlen 2017 konnte keine Rede mehr sein. Auch wenn die Verliererparteien dies gerne bestreiten: 2019 war das Klimawahljahr schlechthin. Nicht nur das: CDU und SPD mussten Federn lassen und haben Jungwählende radikal verloren.
Die Europawahlen 2019 waren ein Reality-Check. Endlich wieder einmal. Statt Versprechungen wollten viele Wählende konkrete Politik, Massnahmen und Vorschläge. Diese lieferten nur die Grünen, während die Koalitionsparteien CDU-CSU/SPD Worthülsen aneinanderreihten. Die Rechnung für derartiges Politikversagen fällt für die Volksparteien brutal aus. Doch statt dies anzuerkennen und ihre Politik zu ändern, schwafeln sowohl Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) als auch die SPD-Chefin Andrea Nahles von «Kommunikation», «Markenkern nicht vermittelt», «Themen verpasst» und so weiter.
Wann begreifen denn die Politikerinnen und Politiker der gefühlten hundert Jahre dauernden Grossen Koalition in Deutschland, dass die Bürger die Phrasen so satt haben, deshalb auf die Strasse gehen und unter keinen Umständen mehr CDU/CSU und schon gar nicht mehr SPD wählen wollen?
Doch nicht nur die Chefinnen der grössten Volksparteien in Deutschland leben in einer völligen Blase. Dies tun auch die Journalisten: Rezo taten viele Leitmedien in den ersten Tagen als «Clickbater» ab, der es mit den Fakten nicht so genau nähme. Allen voran Spiegel Online, was allein zur Realsatire reicht. Da macht sich also ausgerechnet das Magazin, das seinen Starjournalisten Claas Relotius jahrelang mit dessen Fiktionen unangetastet liess, mit sage und schreibe sechs Redaktoren auf, um einen Youtuber zu überführen.
Grobschlächtig behauptet Spiegel Online zahlreiche «belegbare Faktenfehler». Bei näherem Hinsehen entlarven sich diese «Entdeckungen» als Vorwurf an Rezo, «schlecht gewählte Daten» zu zitieren, statt eine «aktuellere» Studie beispielsweise der Böckler Stiftung zu zitieren. Ernsthaft? Und keiner der Kollegen aus den anderen Redaktionen schreit, lacht, kommentiert, zerfetzt Spiegel Online?
Die Wahlergebnisse vom letzten Sonntag sind gleichzeitig Quittung für die Volksparteien und Ausdruck des Medienwandels: Statt Worthülsen, Geschmacksvorlieben, Reputation und Clickbaits interessiert die Bürger und Bürgerinnen viel mehr die Wirklichkeit.
Deshalb wählen sie bei Angst rechts und für die Zukunft grün. Und schauen sich millionenfach ein über 55 Minuten dauerndes Video eines Youtubers an, der sich die Mühe gemacht hat, den Klimawandel und die notwendige Politik zu erklären. Und der es wagt, die regierenden Parteien mit deren Leistungen zu recherchieren. Etwas, das die klassischen Medien eigentlich täglich tun müssten.
PS: Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich nach der Europawahl gefragt: «Was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich?» Der Shitstorm auf Twitter war vorhersehbar: «AKK will Meinungsäusserungen regulieren.»
Keiner realisierte, dass AKK überhaupt nicht merkt, was Sache ist: Sie meint immer noch, der Klimawandel sei eine kommunikative Störung und keine Frage der Realpolitik. Ob ihr nächster Vorschlag der sein wird, die Europawahlen zu wiederholen?