Der Fall Relotius hat kurz vor Weihnachten die Medienwelt erschüttert. Der frühere «Spiegel»-Reporter Claas Relotius soll seine publizierten Geschichten mit eigenen Fiktionen ausgeschmückt haben, viele seiner Stories waren völlig frei erfunden.
Um die Jahreswende wurde noch publik, dass der Starjournalist mit seinen rührigen Berichten auch Spendengelder hinterzogen haben soll.
Für den Klein Report kommentiert die Medienexpertin Regula Stämpfli, die in ihrem neu erschienenen Buch «Trumpism» das Phänomen der «Selfie-Journalisten» analysiert hat.
In der Kunst gilt es schon seit vielen Jahrzehnten, dass es nicht auf das Können, sondern auf die «Authentizität» der Kunst ankomme. Mit anderen Worten: Nicht das Handwerk, beispielsweise das Malen, entscheidet mehr über Kunst, sondern die Geschichte, der Habitus, das Gesicht dahinter. Gelingt dem Erzeuger ein Star-Nimbus, dann läuft das Geschäft wie geschmiert. Je brachialer, politisch unkorrekter, skandalöser, perverser und vieles andere mehr ein Kunstwerk ist, umso höher dessen scheinbare «Authentizität», was den Wert von Werk und Hersteller steigert.
Was der Kunst teuer, ist dem Journalismus schon längst viel Geld wert. Gerade linksintellektuelle und linksliberale Magazine und Zeitschriften üben sich im Herrenkult des Extravaganten, der umwerfenden Fiktionskraft, den Empörungsthemen, die meist von den Jungschreiberinnen (die nach ein paar Jahren in der Versenkung verschwunden sein werden) ins Feld der sich gegenseitig gratulierenden Elite geworfen werden.
Erinnern Sie sich noch an Michèle Roten? An die «Miss Universum», die damalige Starschreiberin für «Das Magazin», die Gratisbeilage des «Tages-Anzeigers»? Roten propagierte Prostitution, Exhibitionismus und Selbstentblössung – lange vor dem Aufstieg der Selfies in den sozialen Medien. Nach einigen wortgewandten Jahren verschwand sie – wie viele andere junge Frauen vor ihr und nach ihr – aus den Medien in die völlige Privatheit.
Ronja Rönne («Warum mich der Feminismus anekelt», in «Die Welt» vom 8.4.2015) ist ein ähnliches Beispiel dieser Art von «Medien- & Selfie-Journalismus». Doch während die Frauen schub- und generationsweise von der Bildfläche verschwinden, ist es bei den Jungschreibern männlichen Geschlechts anders: Sie werden von ihren Kollegen, Vorgesetzten und Geliebten gegen jeden Widerstand geschützt, selbst dann, wenn sie wie Claas Relotius erhebliche kriminelle Energie aufwenden, um ihren Starkult, ihre Fakes und ihre Stories zu verteidigen.
Relotius gefährdete nach ersten Verdächtigungen die Karriere und das Ansehen seines Kollegen Juan Moreno, der dem Fälscher auf die Spur kam, massiv. Es ist nicht auszudenken, wenn ein kleineres Kaliber als Juan Morena sich mit dem Starredakteur, der von seiner Umgebung schon fast heiliggesprochen wurde, angelegt hätte. Oder sogar eine Kollegin? Nicht auszudenken!
Claas Relotius ist leider kein Einzelfall, sondern die Spitze eines Medien-Machtsystems. Dies gibt es auch in der Schweiz. Zwar werden die Geschichten nicht grad erfunden oder gefälscht, doch sie werden sehr oft so zugespitzt, dass sie der Chefredaktion und dem Zielpublikum gefallen sollen. Gerne werden dabei auch unbescholtene Menschen diffamiert oder in ein falsches Licht gesetzt, so wie dies Relotius mit den Menschen in «Fergus Falls» tat.
Die Verherrlichung von Konventionsbrüchen bei gleichzeitig grosser Erzählkunst kreiert monströsen Kommerzjournalismus, der mit der Wahrheit nicht mehr viel zu tun hat. Die ewig gleichen Experten, die dann diesen postmodernen Schrott auch noch mit Preisen ausstatten, zelebrieren so das System eines «Sieger-Journalismus», angelehnt an den Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich. Der brillante Wissenschaftler Ullrich trug solche neofeudalen Verhältnisse schon 2016 zu Grabe. Er zeigte am Beispiel des Kunstmarktes, wie der Werkinhalt zugunsten eines Sieger-Systems völlig verdrängt werde und so keine Kunst, sondern eben nur Siegerkunst produziere.
Dies ist in den Medien auch der Fall: Die Recherche, Reportage, das Interview, die Trennung von Information und Kommentar, die ganz saubere und harte journalistische Arbeit werden als klassische Formen durch Sensationalismus verdrängt. Die Bildmedien, die auch den Printjournalismus prägen, verherrlichen die Authentizität des «Materials» oder des «Herstellers» zusätzlich. Daraus entsteht keine Information und schon gar keine demokratische Willens- und Meinungsbildung. Es rächt sich auch, dass die Journalisten jahrzehntelang diesen Starkult gepflegt haben. Ein Machomythos, der weltweit viele Totengräber der Demokratie gross macht und sie in den entsprechenden Positionen sitzen lässt.
Der Fall Relotius ist also viel gewichtiger als dies die meisten bisher erkennen.