Die Pressefreiheits-Rangliste von «Reporter ohne Grenzen», die jährlich neu erstellt wird, ist wichtig. Gleichwohl ist Vorsicht geboten. Denn sie weist drei Mängel auf. Für den Klein Report kommentiert Roger Blum.
Eben hat die internationale Organisation «Reporter ohne Grenzen», die ihr Hauptquartier in Paris hat, für 179 Länder der Welt wieder die Rangliste der Pressefreiheit erstellt. Vergeben wurden 0-100 Punkte: Je weniger Punkte ein Land erhält, umso besser ist der Zustand der Pressefreiheit. An der Spitze steht Finnland mit 6,38 Punkten, das Schlusslicht markiert Eritrea mit 84,83 Punkten.
In Europa erhielten Österreich (Rang 12) 9,40 Punkte, die Schweiz (Rang 14) 9,49, Deutschland (Rang 17) 10,24, Polen (Rang 22) 13,11, Grossbritannien (Rang 29) 16,89, Frankreich (Rang 37) 21,60 und Italien (Rang 57) 26,11. Greifen wir ein paar kritische Länder heraus, so finden wir Israel (Rang 112) mit 32,97 Punkten, Afghanistan (Rang 128) mit 37,36, Russland (Rang 148) mit 43,42, Ägypten (Rang 158) mit 48,66, China (Rang 173) mit 73,07, Iran (Rang 174) mit 73,40, Syrien (Rang 176) mit 78,53 und Nordkorea (Rang 178) mit 83,90.
Das alles wirkt plausibel, und doch mutet merkwürdig an, dass viele Länder so richtig von den Rängen stürzten oder deutlich die Treppe hochkletterten. Das leuchtet bei Japan, das um 31 Ränge gefallen ist, wegen der restriktiven Informationspolitik nach dem Unfall von Fukushima durchaus ein. Auch die Verluste von Ungarn und Griechenland sind erklärbar. Aber dass Mali um 74 Ränge fiel, die Elfenbeinküste um 63 Ränge hochkletterte und Malawi um 71, verwundert. Überhaupt die Umschichtung in Afrika: Um 10-40 Ränge stiegen Ghana, Burkina Faso, Senegal, Sambia, Benin, Gabun, Liberia, Nigeria, Republik Kongo, Uganda und Kenia. Um 10-40 Ränge hingegen stürzten Tansania, Äthiopien, Somalia, Simbabwe, Lesotho, Swasiland, Niger, Tschad, Gambia, Guinea-Bissau und Kamerun ab. Die Veränderungen sind teilweise so markant, dass sie nur durch politische Umstürze erklärt werden könnten, die es aber praktisch nirgends gab.
Warum also diese Merkwürdigkeiten? Es gibt drei mögliche Erklärungen: Erstens haben «Reporter ohne Grenzen» die Kriterien erweitert. Stärker als bisher wurden im Fragebogen Kriterien wie Medienvielfalt, rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen und die Zugangsmöglichkeiten zum journalistischen Beruf erfasst. Das ist gut, denn diese Themen gehören unbedingt zur Analyse der Pressefreiheit hinzu. Dadurch sind aber die Werte von 2013 mit denen von 2012 eigentlich nicht mehr vergleichbar.
Zweitens wird der Fragebogen in jedem Land von einer kleinen Zahl von Experten ausgefüllt. Es handelt sich um Journalisten, Juristen, Ökonomen, Medienwissenschaftler oder Menschenrechtsaktivisten, die im Land selber wirken oder die Entwicklung aus dem Exil beobachten. Sie haben nicht alle denselben Kenntnisstand und bewerten nicht alle Vorfälle mit demselben Massstab. Bei der Einstufung der Schweiz beispielsweise wurden mit Recht die Konzentrations- und Konvergenzprozesse, die Arbeitsbedingungen der Medienschaffenden und der teilweise schwierige Informationszugang in Kantonen und Gemeinden als negative Punkte gelistet. Doch die Experten haben vermutlich übersehen, dass das Bundesgericht im Berichtsjahr Urteile gefällt hat, die die Pressefreiheit stärken.
Drittens zeigt die Pressefreiheits-Rangliste von «Freedom House» in Washington, dass weltweite Erhebungen durchaus unterschiedlich ausfallen können. Während «Freedom House» allzu schnell bereit ist, Länder in Bezug auf die Pressefreiheit als «nicht frei» einzustufen, geht die Organisation «Reporter ohne Grenzen» etwas zu milde mit Afrika um. Das heisst: Es kommt auf die Kriterien, auf die Auswahl der Experten und auf das Gewicht einzelner Ereignisse im Kontext der Pressefreiheit an. Man darf daher weder die eine noch die andere Rangliste als allein gültigen Massstab nehmen.
Trotz dieser Mängel ist die Rangliste von «Reporter ohne Grenzen» ein wichtiger Indikator für alle Medien, für alle Regierungen und für alle anderen gesellschaftlichen Akteure. Sie mahnt, im Kampf um die vollkommene Pressefreiheit nicht nachzulassen. Alle Länder müssten sich als Ziel stecken, möglichst bald in die Nähe von 0 Punkten auf der Skala von «Reporter ohne Grenzen» zu gelangen. Und dort, wo politische Systeme dies partout nicht wollen, müssten es andere Länder und internationale Organisationen einfordern. Wie eben «Reporter ohne Grenzen».