Der Sexualkundeunterricht an Schweizer Schulen soll in
Zukunft für alle Kinder und Jugendlichen obligatorisch sein.
Diese Ansicht vertritt die Eidgenössische Kommission für
Kinder- und Jugendfragen (EKKJ), die den neuen Bericht
«Jugendsexualität im Wandel der Zeit - Veränderungen,
Einflüsse, Perspektiven» vorgelegt hat.
Nach dem Willen der Kommission soll die sexualisierte Werbung künftig kontrolliert werden. Politologin Regula Stämpfli und Autorin des Klein Reports resumiert: «Fragt sich wie und vom wem. Das ist etwa so sinnvoll, wie wenn man während eines Entzugsprogramms für Alkoholiker ausschliesslich Wodka serviert.» Denn die von der Kommission beklagte Pornografisierung habe nicht einfach mit der Werbung und dem fehlenden Unterricht, sondern viel mehr mit Medien-Macht, verblödetem Journalismus und den Interessen von Pharma und Biowissenschaften an einem möglichst sterilen, unfreien Menschenbild zu tun, so die Politologin.
Dazu Regula Stämpflis Kommentar:
Die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen hat es wieder mal verpasst: Pornografie ist kein Werbeproblem, sondern eine Frage des common sense und der Macht. Viele Printmedien sind heute in Bild und Text wesentlich sexistischer als es sich die Werber je trauen würden.
Die EKKJ hätte besser, statt für einen pasteurisierten Sexualkunde-Unterricht zu plädieren, die obligatorische Lektüre von Milan Kunderas «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» verlangt. Sie hätte, statt dem biologisierten und hoch emotionalen Pornogedusel, gescheiter Albert Cohens «Die Schöne des Herrn» diskutiert. (Nur dürfte wohl keiner der Verantwortlichen diese Bücher gelesen haben.)
Nach solcher Lektüre aber wüsste die heranwachsende Jugend (und die Kommission) mehr von Erotik und Sexualität als nach einem Biologieunterricht, in welchen der Leichengeruch von Porno, Gewalt und unreflektierter Bildungsmacht dominiert. Niemand scheint wirklich zu begreifen, dass die «Pornografisierung des Alltags» wenig mit den sexistischen Bildern und den Werbern, dafür sehr viel mit der sich mehr und mehr etablierenden Bio-Pharma- und Politik-Macht zu tun hat. Wenn uns die Universitäten mit dem Milliardenhammer seit Jahren einbläuen, dass Menschen nichts anderes als sprechende Tiere sind, wobei auch die Sprache eigentlich nur noch in Form eines Tomographenbildes ernst genommen wird, dann erstaunt es nicht, wenn Menschen nicht nur wie Tiere handeln, denken, fühlen und reagieren, sondern unvorstellbar viel weitergehen.
Wenn unsere Bildung dank dem Bologna-Cumuluskarten-System «Zählen statt Denken» vermittelt, erstaunt es nicht, dass auch im Menschenbild sowie vielen Publikationen genetische Quantitäten statt humanistische Qualitäten dominieren.
Wenn die Zeitungen, Zeitschriften, ja sogar der hochgeistige
Kultursender DRS 2 den einzigen Beitrag zu Frauen und
Finanzkrise mit Hilfe einer zur Stripperin gewandelten Bankerin oder eines gutverdienenden Callgirls gestaltet, dann erstaunt es nicht, dass Porno nicht einfach als langweilig und oft ziemlich lächerlich sprichwörtlich weggesteckt wird, sondern zur Leitideologie mutiert.
Hier liegt auch der Trick der Politik: Schlagt einmal mehr die
«sexistischen» Werbeleute, fördert dafür die sexualisierte Berichterstattung im Staatsfernsehen, im Staatsradio, in den postsubventionierten Zeitungen und Zeitschriften.
Die EKKJ bedauert in ihrem Bericht «das Halbwissen» zu Sex und Porno. Ich beklage das manipulative Nicht-Hinschauen von Politik, Bildungsverantwortlichen sowie Gleichstellungsstellen. Denn die Würde sowie die Freiheit des Menschen sind nicht durch sexistische Werbung gefährdert, sondern durch herrschende Ideologie und Macht. Corpus delicti in der Pornografisierung sind nicht die unreflektierten Sex-sells-Mechanismen, sondern
beispielsweise die Milliardenhilfen für Biotechnologien, die
ihre gesamte Forschung in die schöne, neue, undemokratische Zukunft rammelnder Menschen-Pharmamaschinen stecken.
Die EKKJ hätte besser darüber nachgedacht, mit welcher Vielfalt man dem herrschenden sterilisierten Menschenbild
(«Rauchen macht Sie unfruchtbar»...) der Gegenwart effektiv in Zeitschriften, Staatsradio, Staatsfernsehen etc. begegnen
könnte.
Sie hätte auch genauer hinschauen können, denn: Ein Roman Kilchsperger beispielsweise propagiert sexualisierte Gewalt öfter, subventionierter, mit mehr Aufmerksamkeit und viel cleverer als ein lächerliches Krankenversicherungsplakat mit einer Halbnackten im Strassenverkehr.
Der Sexualkunde-Unterricht könnte bei all seinem Mief aber doch etwas Gutes bewirken: Dann nämlich, wenn die Jugendlichen, die mit ihrer Sexualität meist wesentlich besser zurecht kommen als die ältere Generation, ihren Lehrerinnen und Lehrern erklären, wie lebendig, phantasievoll, gierig, lustig etc. Sex sein kann.
Sonntag
18.10.2009



