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Freitag
06.06.2003

Die Redaktion der «New York Times» hat einen Tag nach dem Rücktritt ihrer beiden Chefredakteure wegen des Skandals um gefälschte Berichte erneut Selbstkritik geübt. Die Serie früherer Erfolge «mag uns zu grossspurig gemacht haben, zu sicher, dass die Zukunft schlicht noch mehr davon bringen würde», hiess es am Freitag in einem Kommentar der Zeitung. Jetzt sei man dabei, die eigenen internen Regeln zu überarbeiten. Am Donnerstag - fünf Wochen nach der Aufdeckung des Skandals - hatte Herausgeber Arthur Sulzberger Jr. den Rücktritt von Chefredakteur Howell Raines und dessen Stellvertreter Gerald Boyd akzeptiert.

Die Zeitung zog damit die Konsequenz daraus, dass der Reporter Jayson Blair über mehrere Jahre in Dutzenden seiner Berichte frei erfundene und fehlerhafte Angaben gemacht, sich Interviews und Zitate ausgedacht und massiv von kleineren Regionalzeitungen abgeschrieben hatte. Blair, der am 1. Mai entlassen worden war, erklärte am Freitag in einem Interview des Senders CBS, er bedaure die vielen Fehler, die er gemacht habe. «Dies ist eine menschliche Tragödie, von der andere hoffentlich lernen können», sagte der 27-Jährige.

Er wies Überlegungen zurück, sein rascher Aufstieg zum Star-Reporter in der angesehenen «Times» sei nur möglich gewesen, weil er als Schwarzer besonders protegiert worden sei. Die Gründe für seine Fälschungen seien vielfältig und kompliziert. «Das hat zu tun mit den menschlichen Dämonen in mir, mit meinen eigenen Schwächen. Es reicht vom Drogenmissbrauch bis zu Problemen mit psychischer Krankheit.»

In einem Gespräch mit CNN beklagte die Journalistik-Professorin Geneva Overholser die «Arroganz» der «New York Times». Der Betrugsskandal sei «tragisch» für den gesamten US-Journalismus. Ähnliches hätte allerdings auch in den meisten anderen Zeitungen geschehen können, sagte sie. Nach diesem «Weckruf» seien nun überall in amerikanischen Redaktionen Überprüfungen der Kontrollmechanismen im Gange.