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Dienstag
22.12.2020

Medien / Publizistik

calipha

Was für den «Spiegel» mit dem Fall «Claas-Hendrik Relotius» zum Desaster wurde, könnte jetzt bei der «New York Times» zum Fall «Shehroze Chaudhry» werden.

Auch die renommierte US-Zeitung ist offenbar von einem Schwindler getäuscht worden. Der Mann hatte sich als IS-Kämpfer ausgegeben und einer Reporterin für einen Podcast grausige Märchen erzählt.

Und so lassen sich die Fantasien des Hochstaplers zusammenfassen: Als Shehroze Chaudhry 2016 vom Studium an der pakistanischen Universität in Lahore nach Kanada zurückkehrte, behauptete er, er sei bei der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien gewesen. Über Facebook verkündete er: «Ich bin der grösste Stachel im Fleisch der hiesigen Ungläubigen.»

Das weckte die Neugier der Reporterin Rukmini Callimachi von der «New York Times». Die ausgewiesene Journalistin, die bereits aus dem Krieg im Irak berichtet hatte, organisierte sich ein Treffen mit Chaudhry.

Dieser lebte inzwischen in Kanada vom Döner-Verkauf. Der Job an der Snackbar war ihm aber zu wenig abenteuerlich. Deshalb nannte er sich jetzt Abu Huzayfah und erzählte mit viel Liebe zum Detail, wie er als einer der IS-Kämpfer Feinde und Ungläubige umgebracht hatte. «Das Blut war warm, es spritzte überall. Wir haben ihn dann am Kreuz aufgehängt.»

Nicht nur die Reporterin glaubte die grausigen Märchen. Auch die Redaktion der «New York Times» war begeistert. Ein zwölfteiliger Podcast wurde produziert.

Bestätigt wurden im Podcast «Caliphate» alle Klischees, die man sich in den USA über das Wesen der Dschihadistenmiliz machte. Die Schauermärchen aus Tausendundeiner Nacht wurden mehrere Millionen Mal aufgerufen und 2019 mit dem angesehenen «Peabody Award» für hervorragende Leistungen bei den Medien ausgezeichnet. Zudem landete der Podcast in der Finalrunde für einen Pulitzerpreis.

Bis dann ein paar Unstimmigkeiten die Euphorie über Qualitätsjournalismus ein wenig dämpfen mussten.

Im Herbst 2020 wurde der Fake Terrorist verhaftet. Pikant das Delikt der Anklage: «geschwindelte terroristische Taten».

Bei der «New York Times» folgte eine tiefgreifende Selbstanalyse wie bei der «Spiegel»-Redaktion nach Relotius. In der letzten Adventswoche folgte das Geständnis: «Die Zeitung ist auf einen Hochstapler hereingefallen.»

Der Chefredaktor, Dean Baquet, wollte seiner Reporterin Callimachi nicht die Alleinschuld an dem Debakel geben. «Hier hat nicht eine einzelne Reporterin versagt, sondern das ganze Haus.»

Man zeigte sich selbstkritisch: «Wir waren in die Tatsache verknallt, dass wir ein IS-Mitglied gefunden hatten, das in der Lage war, sein Leben im Kalifat und seine Verbrechen zu schildern», erklärte Baquet in einem Interview im National Public Radio. «Wir waren so verknallt, dass wir auch nicht aufmerksam wurden, als wir Beweise dafür hatten, dass er einiges erfunden hatte.»

Die Zeitung hat den Award inzwischen zurückgegeben. Rukmini Callimachi wurde innerhalb der Redaktion versetzt und soll sich nicht mehr mit Terrorismus befassen.

Natürlich liess es insbesondere Donald Trump nicht an Schadenfreude mangeln: «Mit mir machen sie das jeden Tag», twitterte er über seine Intimfeinde von New York. Allerdings hat er dabei vergessen, dass sich einer seiner ehemaligen Berater auf Callimachis Podcast berufen hatte, um eine Welle von IS-Anschlägen in den USA zu prophezeien.

Für Shehroze Chaudhry geht das Schauermärchen weiter. Allerdings mit gewechselten Perspektiven. Am 25. Januar 2021 drohen ihm vor einem Gericht in Kanada fünf Jahre Haft.