Die Schweizer Agenturen haben nicht einen einzigen Löwen eingeheimst in diesem Jahr in Cannes.
Vor Ort war auch Matthias Kiess, CEO von TBWA\Zürich. Der Klein Report sprach kurz nach seiner Rückkehr aus Südfrankreich über restriktivere Juroren, die Stimmung vor Ort und die schleichende Kommerzialisierung der Werbeweltmeisterschaft.
Keinen einzigen Löwen gab es dieses Jahr für die Schweiz. Überrascht Sie das?
Matthias Kiess: «Nun ja, vielleicht war nicht DAS Eisen einer Schweizer Agentur im Feuer, aber dass die Prämierung derart spärlich enden würde, hatte ich dann doch nicht erwartet. Arbeiten, die andernorts mit Gold prämiert werden, tauchen hier nicht einmal in einer Shortlist auf. Das erstaunt schon. Doch hat man gehört, dass die Juroren angewiesen wurden, restriktiver Löwen zu vergeben, und es wurde anscheinend eine maximale Anzahl an Löwen, die vergeben werden dürfen, festgelegt. Kein Wunder, dass die Ausbeute entsprechend noch tiefer, als sonst schon üblich, war. Gerne möchte ich auch noch folgendes anfügen: Es wurden 25,464 Einreichungen aus 87 Ländern getätigt. Kein Wunder, dass sich dann die Wahrscheinlichkeitsrechnung zusätzlich niederschlägt.»
Wie erlebten Sie die Stimmung in Cannes?
Kiess: «Die Stimmung war gut bis durchzogen, wie auch zum Teil das Wetter. Ich denke, wir hatten mehr vom Anlass erwartet. Letztlich handelt es sich hier um eine riesige Gelddruckmaschine, die nun noch mehr gefüttert wurde. Man brüstet sich mit vielen Themen um Nachhaltigkeit, aber der Event selber ist unverändert und alles andere als nachhaltig gestaltet. Dies ist wirklich schade. Zudem sind Inhalte und Umfeld sehr ‚US-centric‘, was schon erstaunt, wenn zugleich Diversität proklamiert wird. Und dass die Anzahl Löwen, die vergeben werden, reduziert ist, führt natürlich zu weniger Gewinner und entsprechend zu weniger guter Laune.»
Wie ist TBWA in diesem Jahr in Cannes präsent?
Matthias Kiess: «Neben mir waren Manuel Wenzel, unser CCO, und die beiden ‚Young ADC‘-Gewinnerinnen Alina Biedermann und Katharina Binder präsent. Das heisst, es waren von uns mehr da als auch schon. Aus internationaler Sicht würde ich sagen, dass die Präsenz tendenziell eher reduziert war.»
Wie hat sich Cannes aus Ihrer Sicht verändert, insbesondere durch die Umstellungen infolge der Coronapandemie?
Kiess: «Wie oben erwähnt leider nicht zum Positiven, was ich mir wirklich erhofft hatte. Das Programm war same-same und alles hat sich wieder sehr kommerzialisiert angefühlt. Die Präsenz von Greenpeace, welche ja durch mehrere Aktionen aufgefallen waren, war in diesem Sinne durchaus berechtigt. Vielleicht begreifen die Organisatoren jetzt, dass sie so nicht weitermachen können. ‚Wasser predigen, Rosé trinken‘...»
Cannes gilt als die Werbeweltmeisterschaft – was halten Sie von dieser Betitelung?
Matthias Kiess: «Nun, ich denke, dass dieser Nimbus nach wie vor Gültigkeit hat. Doch auch hier muss man anmerken, dass inzwischen eine dramatische Fragmentierung in Kategorien und darauf aufbauend eine Vertikalisierung stattgefunden hat, sodass man gerne den Überblick verliert und der Einzelmeister weniger Sichtbarkeit kriegt. Der Ursprung von Cannes war ja eigentlich der Werbefilm. Heute haben wir Dutzende Einreiche-/Unterkategorien, was in einem riesigen Volumen an eingereichten Arbeiten resultiert. Wenn man sich vorstellt, dass hinter jedem einzelnen eingereichten Werbemittel mehrere Hundert Euro stecken, dann versteht man schnell, welche Summen hier zusammenkommen. Und sich entsprechend die Frage stellt: Um was geht es hier eigentlich noch?»
In welche Richtung sollte sich Cannes Lions in den nächsten Jahren aus Ihrer Sicht entwickeln?
Kiess: «Aus einem Kreativitätsfestival wurde ein massives Kommerzfestival. Es würde nicht schaden, wenn man sich wieder an den Ursprüngen orientieren und eine schnelle Transformation suchen würde. Dies auch unter Einbezug der heutigen Anforderungen, welche sich aus ESG ergeben. Der Spass an guter Kreativität und die Auszeichnung derselben muss wieder im Zentrum stehen. Also: back to the roots!»