Ist es die Sauregurkenzeit oder sitzt das Problem tiefer? Wobei «Sauregurkenzeit» eigentlich eine kulturelle Aneignung wäre. Der Begriff stammt volksetymologisch aus Berlin.
Dort wurden früher in der heissen Sommerzeit frisch eingelegte saure Gurken aus dem Spreewald serviert. In der Schweiz vorwiegend Schoko-Glacé.
Wobei wir auch schon beim Thema wären. Am 18. Juli wurde in der Brasserie Lorraine in Bern ein Konzert der lokalen Band Lauwarm unterbrochen, weil sich ein Teil des Publikums am Reggae sowie den Dreadlocks der Berner Gielen störte. Das sei eine «kulturelle Aneignung», wurde moniert.
Seither ist eine Diskussion über das kulturelle Verständnis der «woken» Sittenwächter zum medialen Selbstläufer geworden. Europaweit. Und die Empörung hält an, wie eine Top-Story in der Online-Ausgabe der «Bild am Sonntag» zeigt.
Dort rechnet Christian Ude, seines Zeichens Münchens Alt-Oberbürgermeister und der «erfolgreichste Oberbürgermeister, den die SPD je hatte», mit den «woken Sittenwächtern» ab. Ude regierte von 1993 bis 2014 die bayerische Landeshauptstadt, holte Ergebnisse, von denen nicht nur die SPD heute träumt. 61 Prozent, 64 Prozent, 67 Prozent. Nur die gesetzliche Altersgrenze stoppte den beliebten Politiker irgendwann.
Jetzt ist Ude 74. Er schaltet sich aber weiterhin in politische Debatten ein. Am Samstag hat er es auf Facebook mit nur elf Zeilen auf den Punkt gebracht.
Ausgelöst wurde sein Post vom Münchner Sänger und Kommunalpolitiker Roland Hefter (SPD). Auch dieser hatte sich in einem Post darüber aufgeregt, dass vor Kurzem das Konzert einer Band in Bern abgebrochen worden war, weil die weissen Musiker Reggae spielten.
Wie in der Schweiz löste sein Beitrag auch in Deutschland noch einmal eine heftige Debatte aus. Die prominenteste Reaktion kam vom langjährigen Oberbürgermeister. «Lieber Roland, herzlichen Dank für deine erfrischenden Worte», schreibt Ude. Und weiter: «Ohne ,kulturelle Aneignung‘ gäbe es keinen Jazz in Europa. Davon haben in meiner Jugend alte Nazis geträumt. Und nur die Spiesser von der ,Sauberen Leinwand‘ waren so sittenstreng und verbotsfreudig wie heute die Sittenwächter der woke Generation.»
Bei dieser «sauberen Leinwand» ging es um eine Zensur im Film «Das Schweigen» von Ingmar Bergman. Einen solchen Vergleich mit kulturell völlig naiven Sittenwächtern werden die Woken wohl in den falschen Hals bekommen.
Christian Ude als Rassisten und LGBTQ-Hasser zu verunglimpfen, dürfte allerdings schwierig werden: Der SPD-Politiker war der erste Oberbürgermeister in Deutschland, der die Schirmherrschaft für einen «Christopher Street Day» übernahm – und vorneweg lief.
Ob die Verhinderer des Lauwarm-Konzerts in Bern als nächstes auch den Christopher Street Day in unseren Breitengraden verhindern wollen, ist im Moment nicht bekannt. Es wäre aber nur logisch. Denn dieser Gedenktag der LGBTQ-Bewegung geht auf den Stonewall-Aufstand von 1969 in New York zurück.
Hat also mit Bern und der Schweiz rein gar nichts zu tun. Ausser, dass es hier auch Woke gibt.