Eigentlich sollte Milo Rau, der begabteste Theatermacher unserer Zeit, nach Ansicht der Kulturkommission den St. Galler Kulturpreis erhalten. Die mit 30`000 Franken dotierte Auszeichnung ging nun aber nicht an Rau, sondern an Felix Lehner, der seit 1994 in St. Gallen eine Kunstgiesserei betreibt.
Für die Klein Report-Kolumnistin Regula Stämpfli eine gute Gelegenheit, über die Preisvergabepolitik in der Schweiz nachzudenken.
Als Arbeiterkind kennt man sich selbst im Erwachsenenalter in bürokratischen Dingen nicht so gut aus. Man ist froh, wenn man für die Steuererklärung keinen Steuerberater braucht, wenn man sich rechtzeitig für das Studium beworben und die entsprechenden Bildungskreditpunkte eingesammelt hat, das Bankkonto nicht überzieht und überhaupt so wenig wie möglich mit Bewerbungen, Formularen oder sonstigen administrativen Vorgängen zu tun hat.
Dies geht Lehrer- und Beamtenkindern völlig anders. Die wissen schon im Kindergarten, dass sie goldene Seepferdchen, rosarote Plüschbären und silberne Engelchen sammeln müssen, wollen sie in ihrem späteren Leben einmal weiterkommen. Diese Mentalität der für die Demokratie stabilisierenden Mittelschichten zieht sich dann durchs ganze Leben. Da wird vernetzt, lobbyiert, medial gelobpreist, bis auch noch der letzte Bürokrat mit künstlerischer Ader seine gut dotierte Auszeichnung abholen kann. Oder wenigstens dessen Kinder.
Dass Leistung und hochdotierte Preise selten in direktem Zusammenhang stehen, sondern enorm viel mit Beziehungen, Mainstream und Verwandtschaftsgrad zu tun haben, führt in diesem Jahr das Literaturnobelpreis-Komitee vor. Aufgrund von üblen Korruptionsskandalen und sexueller Belästigung, Vorteilsannahme et cetera wird der weltweit wichtigste Preis für Literatur nicht vergeben werden können.
Nun hat auch die kleine Stadt St. Gallen ihren Kunstpreis-Skandal: Wie ruchbar wurde, hätte der politisch scharfe Kopf Milo Rau, Kolumnist der «SonntagsZeitung» und ständiges Mitglied des SRF-«Literaturclubs», die 30`000 Franken Anerkennung erhalten sollen. So der Wille der Kulturkommission. Doch der Stadtrat setzte sich über diese Empfehlung hinweg und entschied sich für Felix Lehner. Dieser betreibt in St. Gallen seit 1994 eine Kunstgiesserei, die unter anderem für den Pop-Artist-Millionär Jeff Koons arbeitet.
Aus Ärger über die Wahl des Stadtrates, der kraft seines Amtes entscheiden kann, traten einige Mitglieder der Kulturkommission zurück. Die «SonntagsZeitung» berichtete: «St. Gallens Ruf ist beschädigt». Milo Rau kommentierte: «Die Regierung erinnert an einen antisowjetischen Propagandafilm der 80er-Jahre» - und fertig ist der Skandal.
Vielleicht hat sich der Stadtrat St. Gallens tatsächlich aus politischem Unbehagen gegen Milo Rau gestellt. Vielleicht hat er sich aber wirklich für Felix Lehner entschieden, der laut Presseberichten schon von Brad Pitt Besuch bekommen hatte. Andererseits: Jeff Koons und Brad Pitt? Da kann man davon ausgehen, dass Felix Lehner den Kulturpreis in einer solchen Höhe wohl nicht unbedingt bräuchte, Milo Rau die 30`000 Franken aber sofort in ein neues Projekt investieren würde.
Die Schweiz ist jedoch ein «Schlaraffenland der Kulturpreise» (Zitat «TagesWoche»). Da wird sich sicher noch ein Preis für Milo Rau finden. Zudem geht es bei den Preisverleihungen ja vor allem um mediale Aufmerksamkeit. Zynisch gesprochen hat die Stadt St. Gallen also alles richtiggemacht: Denn im Kultur- und Medienbetrieb gibt es kaum schlechte, nur keine Nachrichten.