Content:

Mittwoch
06.02.2002

Einer Redaktion kann kein Vorwurf gemacht werden, wenn ein Kolumnist ihr Vertrauen ausnützt und sich als «Rabbiner» einer jüdischen Gemeinde ausgibt, sofern sich erst nachträglich herausstellt, dass sowohl die Person wie die Organisation äusserst umstritten sind. Nachdem eine Redaktion auf die Kontroverse um die besagte Person aufmerksam gemacht worden ist, muss sie ihrer Leserschaft sämtliche Informationen liefern, auf denen die These der Funktionsanmassung beruht. Zu diesem Schluss ist der Presserat in seiner am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme gelangt und hat die Beschwerde gegen «Le Temps» teilweise gutgeheissen. Im August letzten Jahres veröffentlichte «Le Temps» eine Kolumne betitelt mit «Der jüdische Nationalismus ist für die Juden schlimmer als der Holocaust». Darin kritisierte der sich als «Rabbiner der Liberalen israelitischen Gemeinde von Bern» bezeichnende Autor die aktuelle Politik des Staates Israel. In einer Beschwerde an den Presserat rügten die «Coordination intercommunautaire contre l`antisémitisme et la diffamation (CICAD)» und die «Fédération suisse des communautés israélites (FSCI)» daraufhin, «Le Temps» hätte vor der Publikation des Artikels abklären und merken müssen, dass der Autor kein Rabbiner sei und dass auch keine «Liberale Jüdische Gemeinde Bern» existiere. «Le Temps» wies die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Redaktion habe vor der Publikation die ihr zumutbare Sorgfalt angewendet und habe ausserdem mit der Publikation einer Präzisierung ihre Leserschaft über die um den Autor geführte Auseinandersetzung orientiert. Der Presserat kommt in seinen Erwägungen zum Schluss, es wäre bereits vor der Publikation der Kolumne nützlich gewesen, zusätzliche Abklärungen zu treffen. Trotzdem habe die Redaktion aber grundsätzlich auf die Angaben des Kolumnisten vertrauen dürfen und nicht von vornherein mit der Anmassung falscher Funktionen rechnen müssen.