2022 wird wohl als das langweiligste Jahr in die Geschichte eingehen. Zumindest aus Zürcher Sicht. Das Zürcher Regionalbüro der Nachrichtenagentur Keystone-SDA publizierte im vergangenen Jahr exakt 1’956 News-Meldungen.
Das sind ein Viertel weniger als der Durchschnitt der vergangenen Jahre. Oder: 500 weniger News. Auch aus den anderen Regionen wurden signifikant weniger Meldungen publiziert.
Der Rückgang hänge mit einer vollzogenen Revision zusammen, sagte Jann Jenatsch, COO von Keystone-SDA, auf Anfrage gegenüber dem Klein Report. Man berichte nun «punktuell selektiver» und wolle der «Relevanz der Meldung mehr Gewicht» zusprechen.
Zumindest die Zürcher Medienlandschaft wendet sich ab von Keystone-SDA. Ende 2020 schlug zum Beispiel die Nachricht ein, dass «20 Minuten» inskünftig auf die Nachrichtenagentur verzichten wolle. Die Dienstleistungen seien nicht mehr «zeitgemäss», sagte der damalige Chefredaktor Gaudenz Looser.
Wer eine ältere Ausgabe der Zürcher Tageszeitungen «Neue Zürcher Zeitung» oder «Tages-Anzeiger» besitzt, erkennt den Unterschied auf den ersten Blick: Früher wurden die Nachrichten-Schnipsel der Nachrichtenagentur gern als Seitenfüller benutzt, heute sind die Kurznachrichten weitgehend verschwunden, im Zürcher Bund dominieren längere Stücke. Und die stammen nicht von den Agenturen.
Von aussen betrachtet ist die Sache gelaufen. Die Nachrichtenagentur kann das heutige Leseverhalten nicht mehr befriedigen. Das erfährt man im Gespräch mit Profis, die schon länger im Metier sind. Ein Zürcher Redaktor meint: «Was Keystone-SDA traditionell im Lokalen liefert, ist mittlerweile überholt. Die Polizeinachrichten, für die sie früher ‚Übersetzungsdienste‘ leisten musste, sind heute viel professioneller. Auch Firmen und Verwaltungen bringen heute druckfertige Medienmitteilungen.»
Ein Beispiel: Am Dienstag, 4. Juli, kam es im Zürcher Quartier Seefeld zu einem Brand in einem Mehrfamilienhaus. Solche Blaulicht-Nachrichten waren früher die Domäne der Agentur.
Und heute? Mal schauen: Keystone-SDA berichtete im nüchternen Beamtendeutsch über den Einsatz. Gleich der erste Satz enthält 24 Wörter und schreckt die Leser mit einem Konjunktiv ab: «Die Wohnung sei bereits in Vollbrand gestanden (...)»
Was macht «20 Minuten» aus der Mitteilung? Der Redaktor schreibt sie leicht um. Der erste Satz enthält zwölf Wörter und entfacht Lust auf die Lektüre: «Über den Dächern des Zürcher Seefelds waren am Dienstagmorgen dicke Rauchschwaden sichtbar.»
Die Feuerwehr, wird berichtet, habe einen «Aussen- sowie Innenangriff» gestartet. Kräftige Wörter, so muss geschrieben werden. Ein Mediensprecher kommt zu Wort, der sein Leid darüber kundtut, dass ein Kaninchen beim Brand umgekommen ist. Am Schluss gibt es noch Infos zu den Einschränkungen des öffentlichen Verkehrs. Auch visuell hob sich «20 Minuten» ab: Keystone-SDA lieferte ein Foto, das Pendlermedium ein Video.
Immer weniger Medien können sich anscheinend die Dienste der Agentur leisten. Allein 2022 sanken die Erlöse aus abonnierten Diensten um über 9 Prozent auf 24,6 Millionen Franken. Mangels Interesse verlor man 2021 über 3 Millionen Franken. 2020 sogar fast 4 Millionen. Man muss es so ausdrücken: Keystone-SDA steht vor existenziellen Problemen.
Die Medienlandschaft sei im Wandel, so Jenatsch. «Dies spürt auch die Keystone-SDA».
Was könnte die Agentur retten? Ein Zürcher Journalist meint: «Dafür müsste sich Keystone-SDA vom Verlautbarungsjournalismus lösen.» Doch können das die Journalistinnen und Journalisten der Nachrichtenagentur überhaupt? Ein leitender Redaktor zweifelt.
Zur Agentur falle ihm nur das böse Wort «Steinzeitjournalismus» ein. «Unsere Journalistinnen und Journalisten müssen immer wieder die Schachtelsätze der Agenturmeldungen auflösen.» Und welche Funktion ein Lead ausübe, sei nicht allen Agenturjournalisten bekannt. Häufig sei der Fliesstext einfach die Fortsetzung des Leads.
Dem Bund ist die unkritische Nachrichtenagentur aber weiterhin ein wichtiges Instrument. 4 Millionen Franken an Subventionen erhielt Keystone-SDA im vergangenen Jahr. Ohne Bundesmittel hätte sie 2,5 Millionen Franken Verlust geschrieben. Und auch 2021 sprach der Bundesrat 4 Millionen zur Unterstützung.
Obwohl die Agentur eine solide Eigenkapitalquote von 53 Prozent aufweist, muss sie die 1,3 Millionen an Gewinn nicht an den Bund zurückzahlen. Die Mittel fliessen in die freiwillige Reserve.
Der Bundesrat macht sich grosse Sorgen um die Zukunft der letzten Nachrichtenagentur der Schweiz. Im kommenden Frühling will er dem National- und Ständerat mehrere Optionen zur Sicherung offenlegen. Eine davon sieht vor, dass Keystone-SDA mit einem Service-public-Auftrag ausgestattet werden könnte.
Sollten in den nächsten Jahren noch mehr Medien abspringen, wäre dies tatsächlich die letzte Rettung.
Richten müssen wird es Hanspeter Kellermüller. Der Generalsekretär der NZZ übernimmt auf Anfang September die Nachfolge von Keystone-SDA von Markus Schwab.
Keystone-SDA gehört zu 30 Prozent der Austria Presse Agentur. Der börsenkotierte Medienkonzern TX Group besitzt 20,56 Prozent und stellt mit Ueli Eckstein, dem langjährigen Tamedia-Verlagsmanager, auch den Verwaltungsratspräsidenten.
Die NZZ-Mediengruppe wiederum hält 7,98 Prozent, die SRG 7 Prozent und Médias Suisse ist mit 6,84 Prozent beteiligt. Der restliche Anteil von 27,62 Prozent besitzen weitere Schweizer Medien und Privatpersonen.