Faktenchecks versagten und das «Spiegel»-Statut als «Grundgesetz des hauseigenen Journalismus» wurde sträflich verletzt. Investigation im eigenen Haus wurde notwendig, ein laut Medientenor «schonungsloser Bericht» wurde vorgelegt. Was taugen Journalistenpreise noch nach dem Relotius-Debakel?
Der Betrugsfall beim «Spiegel» rund um Claas Relotius, der in grossem Umfang eigene Geschichten gefälscht und Protagonisten erfunden hat, zeigt auch ein Jahr später Konsequenzen. Seitdem sind sämtliche Journalistenpreise delegitimiert, da die Jagd nach Auszeichnungen den Qualitätsjournalismus zu Relotius-ähnlichen Storys verführt hat.
«Reportagen»-Chefredaktor Daniel Puntas Bernet meinte am 19. Dezember 2018 zum Schweizer Radio und Fernsehen (SRF): «Die Journalisten müssen noch einen draufsetzen. Noch die bessere Story schreiben, noch die bessere Headline liefern. Sie erliegen der Versuchung.» Juan Moreno, der ein bemerkenswert kritisches Journalismusbuch «Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus» vorgelegt hat, würde widersprechen.
Macht man das System für den Betrugsfall Relotius verantwortlich, unterschätze man die kriminelle Energie, die Claas Relotius selbst nach Recherchen im eigenen Haus zu Tage gelegt hatte. Juan Moreno hatte über Wochen vergeblich versucht, sich in der «Spiegel»-Redaktion Gehör zu verschaffen, selbst klare Beweise wurden zunächst gegen den freien Reporter Moreno statt gegen Relotius interpretiert.
Der Schaden geht weit über den «Spiegel» hinaus. Doch am Schweizerischen Journalistentag zeigte sich Daniel Puntas Bernet extrem selbstsicher und behauptete, ein neuer Relotius wäre nicht mehr möglich, da alle Redaktionen sehr vorsichtig geworden wären.
Der Deutsche Reporterpreis gilt, trotz fehlendem Preisgeld, nach wie vor als höchste Auszeichnung in der deutschsprachigen Medienlandschaft. Relotius hatte diesen Preis mehrfach gewonnen.
Seit dem Skandal gelten härtere Regeln: Es braucht Selfie-Bilder mit den Gesprächspartnern und ein «Making of»-Protokoll. Im Blog zum Reporterpreis 2019 postet Ariel Hauptmeier, wie wichtig der Preis nach wie vor sei, gerade in Zeiten der SEO-Optimierung, die oft verhindere, dass wichtige Reportagen und Texte nicht untergingen. Doch es bleibt auch nach Relotius bei den Journalistenpreisen dabei, dass sie nicht objektivierbar sind. «Es sind subjektive Werturteile, die zwar ausführlich begründet, aber nicht gemessen werden können», so Hauptmeier im Reporterforums-Blog.
Bei den Auszeichnungen durch das Magazin «Schweizer Journalist» werden die Prämierten «durch ein breites Voting» mit rund 800 Online-Stimmen ermittelt. Dieses Jahr ging der Preis endlich zum zweiten Mal seit 2010 (!) an eine Frau, nämlich an Nicoletta Cimmino, die das «Echo der Zeit» moderiert und damit laut Jury «für einen Journalismus» stehe, der sich der «klickgetriebenen Hektik» entziehe.
So oder so: Die publizistische Krise, in die Claas Relotius die gesamte Branche mit reingezogen hat, dauert an.