Einige sind sofort nach Beginn der Kriegsaktivitäten ins Ausland geflohen. Andere haben sich im Verlauf der täglich härter werdenden Restriktionen entschlossen. Insgesamt sollen 200'000 hochqualifizierte Fachkräfte ihrer russischen Heimat den Rücken gekehrt haben.
Die meisten davon arbeiteten in der IT-Branche. 80'000 davon haben in Armenien eine neue Heimat gefunden.
Noch Anfang Oktober zitierte Bloomberg aus einem Bericht der russischen Regierung, dass die Zahl von 200'000 erst 2025 erreicht werde. Doch inzwischen gibt es die Teilmobilmachung. Und da sind es viele Technologie-Spezialisten, die sich auf das Wagnis einer Flucht einlassen können.
Solchen Schätzungen kann auch die Migrationsforscherin Olga Gulina zustimmen. Sie ist Direktorin und Gründerin von Rusmpi, dem Institut für Migrationspolitik in Berlin. Zu den Geflüchteten würden auch Journalistinnen und Journalisten sowie qualifizierte Fachkräfte anderer Branchen gehören, die sich als politische und ökologische Aktivisten gefährdet sehen, so Gulina in einem Bericht im Wiener «Standard» vom 12. Oktober.
«Bei der Abwanderung handelt es sich nicht nur um einen Exodus von Menschen, sondern auch um einen Abfluss von Ideen, Unternehmen und Zukunftspotenzial», weiss die Forscherin.
In Armenien kommt man mit der russischen Sprache sehr gut durch. Auswanderer aus Russland brauchen kein Visum, nach drei Monaten muss man sich lediglich bei der Polizei anmelden.
Doch nicht nur Länder wie Armenien, Usbekistan, Kasachstan, die Türkei und Georgien werben um die Auswanderer aus der IT-Branche. Auch die EU zeigt sich interessiert. Bereits im April hat die deutsche Bundesregierung eine Taskforce «Russische Fachkräfte» eingerichtet.
«Make it in Germany!» nennt sich ein Portal für Spezialisten aus dem Ausland. Es informiert speziell Fachkräfte aus Russland. Allerdings brauchen diese ein Visum, um in der EU arbeiten zu dürfen.
Da bundesweit fast 100’000 IT-Fachkräfte fehlen, hat der Digitalverband Bitkom bereits im Juli den Weg für auswanderungswillige IT-Expertinnen und ‑Experten aus Russland und Belarus erleichtern wollen. «Indem wir Fachkräfte aus Russland und Belarus zu uns holen, wird der Aggressor spürbar geschwächt und gleichzeitig der Standort Deutschland gestärkt», betonte Bitkom-Chef Achim Berg. Passiert ist seitdem noch wenig Konkretes. Ein Problem sind auch die Sicherheitsbedenken, Stichwort: Spionage.
Sprachprobleme hingegen sieht man nicht. In drei von zehn deutschen Start-ups ist die Geschäftssprache sogar Englisch, fand der Bitkom bei einer Befragung heraus.
Hochwillkommen sind die IT-Fachleute bereits in Zypern. Ebenso in den USA gibt es laufende Verhandlungen.
Moskau ist alarmiert. Es soll Massnahmen zur Unterstützung der IT-Branche geben, Steuererleichterungen und bessere Darlehenskonditionen für IT-Unternehmen und Softwareentwickler. Ob das die Fachleute zum Bleiben bewegen kann, scheint vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen aber fraglich.