Das Buch «Jürg Jegges dunkle Seite» ist am Dienstag, 4. April, den Medien vorgestellt worden. Durch die etwas geheimnisvolle Medieneinladung waren einige Journalisten etwas verärgert. Der Klein Report hat mit dem langjährigen Journalisten und Mitautor Hugo Stamm gesprochen und nachgefragt, wie es dazu gekommen ist.
Hugo Stamm: «Wir konnten bei der Einladung an die Medienkonferenz das Buch aus rechtlichen Gründen nicht erwähnen, was tatsächlich aussergewöhnlich, vielleicht sogar einmalig war. Hätten wir nur schon den Titel – ´Jürg Jegges dunkle Seite` – genannt, hätte der Anwalt von Jürg Jegge sofort eine superprovisorische Verfügung erwirken können, ohne uns vorher anzuhören. Es hätte ein langwieriges gerichtliches Verfahren gedroht, das unser Buch über Jahre hätte stoppen können. Nach der Medienkonferenz war die Gefahr einer Verfügung viel kleiner, weil dann der Richter das Buch auf dem Tisch gehabt und unsere Aussagen hätte prüfen können.»
War auch die Situation des Opfers ein ausschlaggebender Grund für Euer Verhalten?
Stamm: «Ja, darüber hinaus gab es aber auch einen psychologischen oder menschlichen Aspekt. Hätte Jürg Jegge das Buch sperren lassen, hätte er seinen ehemaligen Schüler Markus Zangger erneut zum Schweigen gebracht und einmal mehr zum Opfer gemacht. Nachdem Markus Zangger allen Mut zusammengenommen hatte – es war sein alleiniger Entscheid –, mit Gesicht und Namen das Unrecht öffentlich zu benennen, wäre ein Verbot des Buches ein schwerer Rückschlag für ihn gewesen. Wir haben diese Sachverhalte an der Medienkonferenz ausführlich dargelegt.»
Wie haben die Medienvertreter reagiert?
Stamm: «Ich hatte den Eindruck, dass meine Kolleginnen und Kollegen wegen der ungewöhnlichen Einladung ziemlich sauer waren und unsere Motive nicht gebührend würdigten. Sie suchten primär nach Schwachstellen, wie die kritische Berichterstattung zeigte.»
Wie haben Sie während der Bekanntmachung des heiklen Themas des sexuellen Missbrauchs von Markus Zangger durch den bekannten Pädagogen Jürg Jegge die Pressekonferenz erlebt?
Stamm: «Es waren schätzungsweise 30 Journalistinnen und Journalisten anwesend. Erstaunlich war, dass trotz des brisanten Themas nach unseren Ausführungen nur drei Fragen gestellt wurden. Ich musste anschliessend den Radioreportern und Fernsehjournalisten mehrere Interviews geben. Niemand fragte nach unserer Arbeitsweise, alle Fragen drehten sich um die Beweislage und den Umstand, dass wir keine Stellungnahme von Jürg Jegge eingeholt hatten.»
Wie ist es dem Missbrauchsopfer Markus Zangger im Vorfeld und während der Pressekonferenz ergangen?
Stamm: «Er war begreiflicherweise schon ein wenig aufgeregt, denn die Szenerie mit den Medienleuten, den Kameras und Mikrofonen war speziell. Der Verlag und ich haben ihn gut auf die Medienkonferenz vorbereitet. So meisterte er seinen Auftritt sehr souverän. Anschliessend sagte er mir, eine grosse Last sei von ihm abgefallen, dass er das jahrzehntelange Schweigen endlich habe brechen und das Unrecht öffentlich benennen können.»
Wann und wie haben Sie Kontakt mit Jürg Jegge gehabt und in welcher Form?
Stamm: «Ich habe Jürg Jegge eine halbe Stunde vor der Medienkonferenz angerufen und ihm gesagt, dass Markus Zangger und ich ein Buch geschrieben hätten, in dem auch seine Beziehung zu seinem ehemaligen Schüler aufgearbeitet sei. Ich wollte verhindern, dass er unvorbereitet mit Fragen von Journalisten konfrontiert worden wäre.»
Sie sind als sehr gut recherchierender Journalist bekannt. Für den Klein Report war von Anfang an klar, wenn da ein Buchautor wie Hugo Stamm mit vollem Namen hinsteht, dann dürften die Vorwürfe wasserdicht sein. Haben sich Journalisten-Vertreter nach der Pressekonferenz gemeldet?
Stamm: «Diese Fragen interessierten meine Kolleginnen und Kollegen nicht. Sie kritisierten mich, weil ich Jürg Jegge nicht mit den Vorwürfen konfrontiert hatte. Sie liessen auch nicht gelten, dass wir im Buch einen langen Brief von Jürg Jegge an Markus abgedruckt hatten, in dem er seine Motivation und Haltung klar zum Ausdruck brachte. Indirekt bestätige er darin auch die Übergriffe.»
Eine Streiterei um die Form der Publikation?
Stamm: «Die Medien würdigten auch nicht, dass das Buch keine journalistische Arbeit ist, sondern die Lebensgeschichte von Markus Zangger. Also eine Biografie, die in der Ich-Form geschrieben ist. Die Medienleute berücksichtigten auch kaum, dass wir die schriftliche Bestätigung von vier weiteren Opfern hatten, die ebenfalls von Jürg Jegge sexuell missbraucht worden waren. Das hat Markus Zangger ziemlich irritiert und enttäuscht, wie er mir sagte.»
Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) hat ja erst nach mehr als drei Tagen über den Fall berichtet. Was war geschehen?
Stamm: «Genau, es dauerte dreieinhalb Tage, bis sich die Verantwortlichen des Schweizer Fernsehens durchringen konnten, über das Buch und den Fall Jegge zu berichten. Sie warteten, bis sie mit Jürg Jegge ein Interview führen konnten. Wäre er abgetaucht, würden die Fernsehzuschauer vielleicht heute noch auf den ersten Bericht warten. Wenn diese Praxis Schule macht, können in Zukunft viele Skandale nicht mehr aufgedeckt werden: Wenn die Schuldigen oder Täter künftig schweigen sollten, könnten sie eine Berichterstattung verhindern. Die journalistischen Möglichkeiten wären massiv eingeschränkt. Abgesehen davon hätten die SRF-Leute aus dem Brief von Jürg Jegge zitieren und seine Stellungnahme so in die Berichte einbauen können. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang schon, dass sich keine Medienschaffenden beim Verlag, bei Markus Zangger oder mir gemeldet haben, um wenigstens Hintergrundinformationen zu bekommen.»
Und wie hat sich das Team um Buch-Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx, Markus Zangger und dich abgesichert gegen mögliche Interventionen?
Stamm: «Wir haben die Kritik geahnt und alle möglichen Varianten besprochen und geprüft. Ausserdem haben drei renommierte Juristen das Manuskript gelesen und uns beraten. Schliesslich sind wir gemeinsam zur Überzeugung gelangt, dass wir keine andere Wahl haben, als so vorzugehen, wie wir es schliesslich getan haben. Auch rückblickend müssen wir sagen: Es war der richtige Weg. Der Ablauf der Ereignisse hat es uns bestätigt.»
Wie haben eure Anwälte reagiert? Und wo steht ihr zum aktuellen Zeitpunkt? Gibt es Klageandrohungen?
Stamm: «Unsere Anwälte haben uns klargemacht, dass bei einem derart sensiblen Thema immer die Gefahr eines gerichtlichen Verfahrens besteht, sie waren sich aber einig, dass wir es wagen können, ja müssen. Da ich selbst schon dutzendfach Anzeigen am Hals hatte, war mir dies ohnehin bewusst. Entscheidend für uns war, dass wir eine superprovisorische Verfügung vor der Publikation verhindern konnten. Vor einer Strafanzeige oder einem zivilrechtlichen Verfahren hatte ich nie Angst, denn ich wusste, dass wir sorgfältig gearbeitet hatten und wir notfalls weitere Opfer als Zeugen aufrufen könnten. Bis heute haben wir noch keine Hinweise darauf, dass Jürg Jegge rechtliche Schritte unternimmt.»
Mittlerweile haben sich weitere Missbrauchsopfer gemeldet, die Justiz ermittelt, und die Bildungsdirektorin Silvia Steiner hat angekündigt, die Fälle zu untersuchen. Was bedeutet dies für euch?
Stamm: «Nach der Berichterstattung in den ersten Tagen haben die Stellungnahmen von Justiz und Politik zum einem Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit geführt. Seither ist klar, welches Ausmass und welche Bedeutung der Fall hat. Es war vor allem für Markus Zangger und die weiteren Opfer ein Befreiungsschlag: Endlich werden sie ernst genommen, endlich glaubt man ihnen.»
Für den Klein Report ist das nicht nur thematisch, sondern nun auch in seiner Aufarbeitung ein epochaler Fall. Bleibt ihr weiter dran – und wenn ja, in welcher Form?
Stamm: «Wir haben unsere Arbeit getan, nun liegt es primär an der Justiz, der Politik und den Medien, die Fälle aufzuarbeiten. Markus Zangger kann sie dabei unterstützen. Verlegerin Gaby Baumann-von Arx und ich bleiben natürlich in Kontakt mit ihm, die letzten Monate haben uns zusammengeschweisst.»
Folgt vielleicht ein zweites Buch?
Stamm: «Darüber haben wir uns keine Gedanken gemacht. Wir werden die Entwicklung natürlich genau beobachten. Ob wir allenfalls ein zweites Buch schreiben, hängt davon ab, was die Untersuchungen ergeben, und ob weitere Opfer das Bedürfnis haben, sich öffentlich zu erklären. Im Vordergrund würde aber die Frage stehen, ob wir mit einem neuen Buch einen weiteren Beitrag zur Aufklärung leisten könnten.»