Mit 3000 Abos ist die «Hauptstadt» vor bald drei Monaten gestartet. Bis in drei Jahren will das neue Berner Online-Magazin selbsttragend sein.
Der Klein Report hat sich die «Hauptstadt» angesehen und sich mit Kulturjournalistin Marina Bolzli, Politjournalist Joël Widmer und Ex-«Berner Zeitung»-Autor Jürg Steiner über erste Zahlen, journalistische Ansprüche und mehrdeutige Videobotschaften unterhalten.
Die «Hauptstadt» ist am 7. März gestartet. Sind Sie zufrieden mit dem Auftakt?
«Hauptstadt»: «Sowohl inhaltlich wie ökonomisch ja. Wir arbeiten sorgfältig und wir greifen relevante Themen auf. Der ‚Hauptstadt‘-Brief, der dreimal die Woche morgens um 7 erscheint, kommt bei den Abonnenten und Abonenntinnen gut an. Die Artikel auf der Website haben ein gutes Niveau und die Zugriffszahlen auf hauptstadt.be sind ansprechend. Ferner hat die ‚Hauptstadt‘ seit dem Crowdfunding 700 weitere Abonnenten und Abonnentinnen dazugewonnen.»
Können Sie die Entwicklung bei Traffic und Abos etwas genauer beziffern?
«Hauptstadt»: «Das Crowdfunding haben wir im November mit 3002 Abos abgeschlossen. Heute sind es 3700 Abos. Unser Businessplan geht davon aus, dass es bis Ende Jahr 3900 Abos sein sollten. Wir sind also auf Kurs. Da wir nicht werbefinanziert und nicht klickgetrieben sind, erachten wir die Traffic-Zahlen nicht als das entscheidende Mass. Die Öffnungsquote unseres morgendlichen Newsletters ist sehr zufriedenstellend.»
Der Anspruch der «Hauptstadt» ist laut Claim «Neuer Berner Journalismus». Was genau ist neu?
«Hauptstadt»: «Journalismus besteht nicht nur aus dem, was als Text, Bild oder Ton publiziert wird, sondern auch daraus, wie und unter welchen ökonomischen Bedingungen das Produkt entsteht. Neuer Berner Journalismus heisst: Die ‚Hauptstadt‘ ist nicht in eine Grossverlags-Logik eingebunden. Die ‚Hauptstadt‘ legt Wert auf flache Hierarchien, transparentes Lohnsystem (Einheitslohn), hohe Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Produkt, offenen, respektvollen, gleichberechtigten Umgang.»
Wie unterscheidet sich das, was mir die «Hauptstadt» bietet, von dem, was ich in «Bund» und «Berner Zeitung» vorgesetzt bekomme?
«Hauptstadt»: «Die ‚Hauptstadt‘ publiziert dreimal wöchentlich einen persönlich formulierten ‚Hauptstadt‘-Brief, der ausgewählte lokale News knapp und klar auf den Punkt bringt, damit sie auch von Menschen gelesen werden, die nicht Zeit haben, seitenlange komplexe Insider-Lokalgeschichten zu lesen. Die ‚Hauptstadt‘ führt auch mit Lokalpolitikern und Lokalpolitikerinnen harte Interviews. Die ‚Hauptstadt‘ verlegte die Redaktion eine Woche lang nach Ostermundigen, um mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Die ‚Hauptstadt‘ hat in den ersten drei Monaten ein halbes Dutzend Artikel geschrieben, die später von Bund/BZ aufgegriffen wurden. Die ‚Hauptstadt‘ hat ein eigenes Nachtleben-Ausgehformat auf Instagram geschaffen. Die ‚Hauptstadt‘ präsentiert bisher in Bern unbekannte Kolumisten und Fotografinnen.»
Ihr Magazin verfolgt ein «gemeinnütziges Geschäftsmodell». Was heisst das genau?
«Hauptstadt»: «Gemeinnützig bedeutet, unsere wirtschaftliche Tätigkeit ist nicht darauf ausgerichtet, Gewinn zu machen, sondern der Allgemeinheit einen nützlichen Dienst zu erbringen. Jeder erwirtschaftete Franken wird in den Journalismus investiert. Wir machen unsere Angebote möglichst allen Menschen hindernisfrei zugänglich.»
Warum haben Sie sich gegen einen rein kommerziell finanzierten Journalismus entschieden?
«Hauptstadt»: «Weil das die Marktlücke ist in Bern. Werbefinanzierten Journalismus gibt es in Bern mehrfach.»
Wie gross ist die Redaktion in Köpfen und Stellenäquivalenten? Wie organisiert sie sich?
«Hauptstadt»: «Wir können rund 400 Stellenprozente finanzieren. Das ist nicht nur Redaktion, sondern auch Geschäftsleitung und Administration. Die vier Stellen verteilen sich auf neun Personen. Dazu kommen derzeit ein Praktikant und Budgets für freie Mitarbeit und Fotografie.»
In der Kampagne zum Start haben auch mächtige Berner für die «Hauptstadt» geworben, wie Politlobbyist und Furrerhugi-Mitinhaber Lorenz Furrer und Stadtpräsident Alec von Graffenried. Was sagen Sie zu dem Bedenken, dass dies zu Beisshemmungen in der Redaktion führen könnte?
«Hauptstadt»: «Die Videobotschaften waren an keine Bedingungen geknüpft. Finanzielle Beziehungen bestehen ohnehin zu keinem Urheber eines Videostatements. Wir sind und fühlen uns frei, über jede Urheberin der Statements positiv wie auch kritisch zu berichten. Bedenken bezüglich Beisshemmung wurden in der ‚WoZ‘ geäussert, weil über den Gründer der Gelateria di Berna ein freundliches Porträt erschien. Er hatte ein Videostatement abgegeben. Wir anerkennen, dass es von aussen so aussehen kann, als bestünde eine Abhängigkeit. In Tat und Wahrheit besteht sie nicht, wir haben aber vielleicht in diesem Fall die Aussenwirkung nicht ganz richtig eingeschätzt.»
Was sind die nächsten Etappenziele? Wann schaffen sie den Turnaround?
«Hauptstadt»: «Einen Turnaround müssten wir schaffen, wenn wir uns aus einer Krise befreien müssten. Das müssen wir aber nicht. Wir sind von Anfang an leserfinanziert gestartet. Die grösste Hürde, die uns bevorsteht, ist die Erneuerung der Abos nach dem ersten Jahr im März 2023. In den ersten drei Betriebsjahren werden wir (abnehmend) zusätzlich mit einer Anschubfinanzierung unterstützt. Das Ziel ist es, nach drei bis vier Jahren selbsttragend zu sein. Das heisst, dass wir bis dahin eine Zahl von 5000 Abonnenten und Abonnentinnen anstreben.»
Gemäss Impressum kommen die Anschubgelder von der Stiftung Volkart, der Berner Burgergemeinde, dem Förderfonds der Berner Kantonalbank, der Migros Aare sowie von der Basler Stiftung für Medienvielfalt, die bis zum Ende 2018 massgeblich die «TagesWoche» gefördert hat.