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Dienstag
18.07.2023

Kino

Giona A. Nazarro ist künstlerischer Direktor des Filmfestivals Locarno. Er glaubt persönlich nicht an den Unterschied von Art und Kommerz…              (Bild: Locarno Filmfestival)

Giona A. Nazarro ist künstlerischer Direktor des Filmfestivals Locarno. Er glaubt persönlich nicht an den Unterschied von Art und Kommerz… (Bild: Locarno Filmfestival)

Am 2. August startet in Locarno die 76. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals. 214 Filme warten auf das Publikum. Das grösste Festival der Schweiz steht zum dritten Mal unter der künstlerischen Direktion von Giona A. Nazzaro.

Der Klein Report hatte im Vorfeld des Programms Gelegenheit, mit dem Festivaldirektor über seine Arbeit rund um die Filmauswahl zu sprechen.

Am Dienstag hat die Berlinale bekannt gegeben, dass die Filmfestspiele in Berlin das Budget massiv kürzen müssen. Bei der nächsten Ausgabe im Februar sollen ein Drittel weniger Filme gezeigt werden. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Meldungen hören?
Giona A. Nazzaro: «Wir haben das natürlich gelesen. Im Moment sehe ich aber am Horizont von Locarno nichts Ähnliches. Nach dem erfolgreichen Abschluss unserer Ausgabe im letzten Jahr ist das im Moment sicher kein Thema.»

Unter den Hauptsponsoren UBS, Die Mobiliar und Swisscom ist bei der kommenden Ausgabe neu auch Swatch dabei. Welche Incentives können Sie solchen Sponsoren bieten?
Nazzaro:
«Locarno ist ein Labor für mögliche Entwicklungen von Formen der Filmvermittlung und Auseinandersetzung mit dem Film auch in Zukunft. Swatch kann mit uns zusammen auf einer sehr kreativen Ebene an solchen Ideen für die Zukunft arbeiten. Ansonsten haben wir ein sehr gutes Programm mit Filmen und versuchen auch immer, sehr spannende Gäste nach Locarno zu holen. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Sponsoren sehr verknüpft mit unserem Programm. Das läuft über das ganze Jahr hindurch. Und während des Festivals ist es für die Sponsoren natürlich attraktiv, ihre Gäste nach Locarno einladen zu können.»

Der Intendant eines Theaters gibt seinem Haus ein Gesicht. Was ist die Handschrift von Giona A. Nazzaro in Locarno?
Giona A. Nazzaro: «Für mich ist es wichtig, dass Locarno der Hauptverfechter des Autorenkinos bleibt, nicht nur in der Schweiz, sondern auch international. Auf der gleichen Wellenlänge will ich auch das breitere Publikum in eine engere Konversation mit dem Festival bringen. Ich glaube nicht an den Unterschied von Art und Kommerz. Die Pandemie hat wirtschaftlich vieles verändert. Auch ein Festival muss sich wirtschaftlich in einer veränderten Zeit bewegen. Das heisst, das Gespräch mit dem Publikum muss enger und besser werden. Für mich als Filmfan und Fan vom Kinosaal sehe ich ein Problem, wenn ein Kinosaal nur halb voll ist.»

Am kommenden Festival werden in Locarno 214 Filme gezeigt. Wie viele Einreichungen mussten Sie sichten?
Nazzaro:
«Es sind über 5’000 Bewerbungen, mit verschiedenen Formaten, Längen und Genres.»

Früher ist der Direktor von Locarno ein Jahr lang rund um die Welt gereist, um in Mexiko, Vietnam oder Norwegen mögliche Filme physisch vor Ort für das Programm in Locarno zu entdecken. Jetzt können Filme auf einfachste Weise über Streaming rund um die Welt verschickt werden. Gehen Sie trotzdem noch auf Reisen?
Giona A. Nazzaro: «Das hat sich nicht verändert. Man geht aber nicht mehr nur Filme anschauen, sondern wir reisen rund um die Welt, um Projekte zu studieren. Man beobachtet Work in Progress. Wir werden eingeladen, um neue Filmemacherinnen oder Produktionsgruppen kennen zu lernen. Ich war im vergangenen Jahr sehr viel unterwegs.»

Wie viele Leute sind involviert in die Programmauswahl?
Nazzaro:
«In der Auswahlkommission sind wir mit mir zusammen sieben Leute. Die Arbeit ist so aufgeteilt, dass jedes Mitglied der Auswahlkommission sein eigenes Gebiet hat, zum Beispiel Asien, Osteuropa oder Amerika. Dort haben sie auch ihre Korrespondenten, von denen sie wertvolle Hinweise auf neue Filme bekommen. So sucht jeder seine Titel und am Schluss schauen wir die Shortlist gemeinsam an und besprechen, was am besten zusammenpasst. Denn für mich ist es wichtig, dass wir nicht einfach einzelne Highlights zeigen, sondern dass die Filme – ich sage dem so – auch selber untereinander einen Dialog führen. Und das ist dann der Stil unseres Festivals.»

Bei den Oscars und auch in Cannes war es Thema, wie weit die Filme der Streamer genauso wie Filme aus dem Kino behandelt werden sollen. Wie handhabt man das in Locarno?
Giona A.
Nazzaro: «Das mit dem Streaming ist eine relativ neue Frage und auch eine neue Landschaft. Das bedeutet, dass sich verschiedene Regeln, wie man sich gegenüber den Streamingplattformen benimmt, im Moment noch Tag für Tag ändern. Ich denke nicht, dass wir da bald eine endgültige Strategie finden werden. Es gibt Filme, die sind im Kino ein Flop und auf der Streamingplattform ein Hit. Und umgekehrt. Es gibt enorm viele Elemente, die Prioritäten immer wieder verändern. Wo der Film seinen wichtigsten Platz hat, im Kino oder auf dem Bildschirm, diese Frage wird uns also noch länger beschäftigen. Aber das Business-Modell wird immer noch der Kinosaal bleiben, davon bin ich überzeugt. Dafür braucht es aber sehr grosse Filme, ich denke zum Beispiel an ‚Top Gun‘, ‚Mission Impossible‘. Für solche Filme ist der Kinosaal immer noch die wichtigste Vermittlungsstelle.»

Wie ist der Stellenwert von Stars auf der Piazza im Vergleich zu einem künstlerischen Approach?
Nazarro:
«Wir versuchen immer wieder das Beste für beide Bedürfnisse zu machen. Ein Eröffnungsfilm auf der Piazza muss eine Qualität haben. Solche Filme müssen eine kreative Stellung haben. Aber die Stars helfen. Für mich sind Stars kein Nebenprodukt der Filmindustrie. Man geht ja oft auch ins Kino, weil man genau diese Stars sehen will. Heute hat das Wort Star fast einen negativen Beigeschmack. Aber ich teile das überhaupt nicht. Wenn wir die Geschichte von Hollywood betrachten, aber auch vom italienischen Kino, dann ist das die Geschichte von Menschen, die diese Filme gemacht haben. Cary Grant, Anna Magnani, Gary Cooper, Marcello Mastroianni, das sind Stars, denen wir die Geschichte abgenommen haben.»

Und heute ist es mehr der Content, der zählt?
Giona A.
Nazarro: «Ja, aber wenn der Film gut ankommt, haben wir auch wieder einen neuen Star. Es sind einfach die Stars unserer Gegenwart, welche die Geschichten weitererzählen können.»

Wegen Corona musste in Locarno viel online stattfinden. Was ist von dieser Technik geblieben?
Nazarro:
«Online war nötig wegen Corona. Aber für mich ist ein Online-Festival ein Widerspruch. Es gibt viele Online-Ereignisse, die sehr interessant sein können. Aber das sind organische Ereignisse. Sie sind bewusst online und nicht, weil sie physisch nicht stattfinden könnten. Wir haben in diesem Bereich ebenfalls viel gemacht und sehr viel gelernt. Aber für mich ist das Wesen eines Festivals die persönliche Begegnung. Einen Film im Saal oder sogar auf der grossen Leinwand gemeinsam anschauen. Und nachher in der Menge beim Ausgang oder später auch noch in der Bar darüber reden, wie einem der Film gefallen hat oder eben nicht. Das ist für mich das Wesen eines Festivals.»

Giona A. Nazzaro leitete jahrelang die Kritikerwoche des Filmfestivals Venedig und wirkte an Festivals in Rotterdam, Rom, Florenz und Turin mit. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher. Er ist in Dübendorf aufgewachsen und ging dort oft ins Kino Orion.

Damals wurden wegen der vielen italienischen Einwanderer samstags und sonntags Filme in italienischer Sprache gezeigt. Als er nach Italien zurückkehrte, hielt er enge Beziehungen zur Schweiz aufrecht. Um sein Studium in Neapel zu finanzieren, arbeitete er regelmässig in einem Restaurant in Zürich.

Von 2010 bis 2020 war er Kurator für das Festival Visions du Réel in Nyon. Mit dem Locarno Film Festival hat er von 2009 bis 2019 als Moderator zusammengearbeitet.

Im November 2020 wurde Giona Nazzaro in Locarno als neuer Direktor des Internationalen Filmfestivals und Nachfolger von Lili Hinstin gewählt.