Seit Sonntag sind fünf Abenteurer aus der Gesellschaftsschicht der Milliardäre mit einem Tauchboot verschollen. Seither befindet sich die gesamte Weltpresse im Panic Room. Die Stunden werden heruntergezählt, wie lange der Sauerstoff noch reichen könnte.
Forscher wie Bertrand Piccard dürfen in den Zeitungen der NZZ-Mediengruppe mitfühlend ihre Expertisen abgeben und sich als Wahrsager am Ratespiel beteiligen, ob die verwegenen Fünf schon tot sind oder nicht. In den USA übernimmt sein Part auf NBC der Meeresforscher Simon Boxall von der Universität Southampton.
Ehemalige Touristen der 250'000 Dollar teuren Fahrt in den Vorraum der Hölle dürfen sich im «Spiegel» noch einmal ihrer Heldentat brüsten. Der ehemalige U-Boot-Kapitän Jürgen Weber und Titanic-Expertin Brigitte Saar sind beim ZDF für ihre Expertisen gefragt.
Bei den stündlichen Aktualisierungen dürfen Angehörige der Abenteurer über ihre Hoffnungen reden. Psychologen dürfen über die Gefahr von Panikattacken psychologisieren, wenn fünf Todgeweihte ihre letzten Stunden auf derart engem Raum durchleben müssen, wie er in der «Titan» zum letzten Korsett geworden ist.
Ob einem da der persönliche Film seines Lebens noch einmal durch den Kopf geht? Oder sieht man im Geiste noch einmal den Untergang der «Titanic», die als Wrack vielleicht zum Greifen nahe liegt, aber dennoch unsichtbar, weil völlig im Dunkeln auf 3'800 Meter unter Wasser? Und ohne die schöne Begleitmusik von Celine Dion.
Wieso dieser Zynismus?
Nicht einmal eine Woche vorher ist im griechischen Meer am 14. Juni ein Flüchtlingsboot gesunken. Mehr als 500 Menschen sind dabei ertrunken. Immerhin ein Drittel soviel, wie damals beim Jahrhundert-Untergang der Titanic, In den Medien? Man hat die Aktualität zur Kenntnis genommen und möglichst attraktiv bebildert. Aber weder sind Fischer als Experten befragt worden, wie viele Menschen auf einem alten Fischkutter zugelassen sind. Auch keine Angehörigen im Flüchtlingsland Libyen wurden befragt. Keine Jugendpsychologin hat ihre Expertise zur Gemütslage der Kinder abgegeben, die im Rumpf dieses desolaten Fischkutters hilflos auf das Ende ihres noch nicht einmal zehn Jahre alten Lebens warteten.
Jetzt endlich. Am Donnerstag, nachdem alle Spekulationen auf einen guten Ausgang des Abenteuers rund um die «Titan» kein Happy-end mehr versprechen, beginnt es bei den ersten Redaktionen zu denken.
Der «Tages-Anzeiger» publizierte am frühen Donnerstagmorgen eine Analyse von Simon Widmer mit dem Titel «Die toten Migranten haben mehr Anteilnahme verdient». Die Welt schaue gebannt auf das verlorene Tauchboot. Weniger interessiert hingegen die Flüchtlingstragödie, die sich vergangene Woche im Mittelmeer abspielte.
«Sind fünf Menschen mehr wert als 600?», fragt am Donnerstag um halb drei dann die «Berliner Morgenpost». «Focus Online» wollte ebenso der Frage auf den Grund gehen: «Uns bewegt die reiche U-Boot-Crew mehr als Hunderte Flüchtlinge - warum?»
«t-online» wagte bereits am Donnerstagmorgen zu titeln «Fünf gegen 500».
Auf Nau wurde schliesslich die Psychologin und Neuro-Wissenschaftlerin Grit Hein in einem Titel zitiert: «Empathie mit ‘Titan’-Insassen nachvollziehbar».
Die Neuro-Wissenschaftlerin analysierte: «Mitgefühl und Empathie nimmt mit gefühlter Nähe oder Ähnlichkeit zu einer betroffenen Person zu.» Sie könne sich vorstellen, dass es sich für viele tatsächlich näher anfühle, zur «Titanic» in einem U-Boot aufzubrechen. Für andere Menschen, die selbst einen Hintergrund als Geflüchtete haben, sei das sicherlich anders, äusserte sie gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.
Auf n-tv meinte die Psychologin, das grössere Mitgefühl für die Milliardäre liege auch in der Berichterstattung begründet. «In dem Moment, wenn ich Informationen über eine Person habe, erzeugt das dieses Gefühl des Kennens, Sichnäherstehens. Und das erhöht das Mitgefühl.»
Das liesse sich genauso gut über entsprechende Berichterstattung über Geflüchtete erzeugen, die aber so meist nicht passiere, ist Grit Hein überzeugt.
Ein neues Thema ist also gefunden, darf der Klein Report beruhigt feststellen. Und sich moralisch darüber freuen: Wenigstens in den Sozialen Medien ist die Diskussion darüber aktuell am Explodieren.