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Samstag
14.08.2010

Wer sich aufs Filmfestival in Locarno einlässt, hat als Cineast die Qual der Wahl – trotz rund 100 Filmen weniger als noch im Jahr 2009. Ein Beispiel: Berichterstatter Rolf Breiner konnte am Donnerstagmittag wählen zwischen Rainer Werner Fassbinder («Ich will doch nur, dass ihr mich liebt»,1976), der Ernst-Lubitsch-Retrospektive («Die Bergkatze», 1921) oder dem Wettbewerbsfilm «Karamay» (China 2010). Das restaurierte Fassbinderwerk wird sicher auch andernorts wieder zu sehen sein.

Beim chinesischen Dokumentarfilm über die Katastrophe (Brand in der Freundschaftshalle mit 323 Toten) schreckte die Länge (356 Minuten) etwas ab. Kritikerkollegin Claudia Schwartz (NZZ) hat die sechs Stunden durchgesessen. Sie hat im kühlen Casino-Theater zwar kalte Füsse bekommen und eine 20-minütige Pause gemacht, war aber vom Werk fasziniert, wie sie gegenüber dem Klein-Report offenbarte.

Der Film leiste Trauer- und Aufklärungsarbeit, er zeige, wie die Wahrheit verdreht beziehungsweise von den Behörden verschwiegen wurde. Es ist bekannt, dass von den fast 800 Schülern und Lehrern, die sich zu einer Vorführung für eine Polit-Delegation eingefunden hatten, 323 Menschen in den Flammen umgekommen sind, darunter 288 Kinder zwischen 6 und 14 Jahren. Alle Behördenvertreter – die zuerst die Freundschaftshalle verlassen durften – überlebten. Hier galt nicht das alte Seegesetz: Frauen und Kinder zuerst von Bord, sondern Politbonzen zuerst. Bis heute wird die Verantwortung der Behörden, Feuerwehr und Polizei totgeschwiegen. Xu Xin beschreibt in seiner sechsstündigen Dokumentation «Karamay» fesselnd und eindrücklich, wie die Opfer zu Märtyrern gemacht wurden und die Berichterstattung über das Unglück zensuriert wird. Seine Arbeit kann auch als Abbild und Zeugnis eines Regimes gedeutet werden, das seine Bevölkerung hinters Licht führt.

In eine ganz andere Zeit tauchte Ernst Lubitschs Groteske «Die Bergkatze». Der Stummfilm von 1921 schildert in bester Slapstickmanier, wie sich die wilde Räubertochter Rischka (Pola Negri) in einen Filou, den feschen Leutnant Alexis, verliebt. Der strafversetzte Frauenheld sollte eigentlich die Tochter des Festungskommandanten heiraten. Das wilde Treiben um und in einer Bergfeste, die einem expressionistischen Zuckerbäckerwerk gleicht, nimmt dabei herrlich haarsträubend komische Züge an. Die grandiose Lubitsch-Groteske in märchenhaft schrägen, expressionistischen Dekors macht sich deftig lustig über das Militärwesen – und wurde dazumal missverstanden. Das Lachen im Kinosaal heute wäre das schönste Kompliment für Altmeister Lubitsch, dessen berühmte Nazi-Satire «To Be Or Not To Be» von 1942 auf der Piazza Grande aufgeführt wurde – mit Applaus. Überhaupt findet diese Retrospektive grosse Resonanz beim Publikum. Lubitsch bildet quasi das heitere Gegengewicht zu den todernsten Wettbewerbsfilmen.