Regisseur Fernand Melgar hat seinen Dokumentarfilm «L`abri» am Filmfestival Locarno vorgestellt. Im Zentrum des Werks steht eine Notschlafstelle für Obdachlose in Lausanne. Abend für Abend spielen sich dort dieselben Szenen ab: In der Unterkunft können nur 50 Auserwählte aufgenommen werden, die anderen müssen im kalten Winter draussen übernachten. Die Aufseher haben die schwierige Aufgabe, zu entscheiden, wer auf welcher Seite der Tür bleibt.
Es sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, die abends vor der Notschlafstelle auf ein warmes Bett hoffen. Es ist bereits das dritte Mal, dass Melgar in Locarno einen Film zur Migrationsthematik vorstellt. 2008 wurde «La Forteresse» im Nebenwettbewerb Cinéastes du Present mit einem Leoparden prämiert und 2011 erhielt «Vol spécial» den Preis der Jugendjury.
«Mein Kino ist ein Kino der Unruhe. Ich werfe in `L`abri` gewisse Fragen auf, die sich die Bewohner dieses Landes nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative stellen sollen. Mich selbst betrifft das Thema als Sohn spanischer Migranten persönlich», so Melgar an der Pressekonferenz am Sonntag.
Der Lausanner Filmregisseur muss im Zelt im Garten des Palazzo Morettini laut gegen den Regen ansprechen, der auf das Dach prasselt. Er wirkt nachdenklich und engagiert: «Die Schweiz ist ein Land, das ich liebe, und ein Land, das ich auseinandernehmen will. In meinem Film gibt es keine guten und schlechten Leute, sondern einfach Menschen. Einige von ihnen sind vor und einige hinter der Barriere.»
«Vor dem Dreh haben wir sechs Monate lang ohne die Kamera recherchiert», sagte Executive Producer Elise Shubs, die bei den Dreharbeiten dabei war. «Wir wollten zuerst die Obdachlosen und ihre Lebensumstände kennenlernen. Wo sie essen, was sie tagsüber tun, wann sie zur Notschlafstelle kommen. Während des Drehs erklärten wir dann jeden Abend den Menschen unser Projekt, bevor wir gefilmt haben.»
Es sei nicht immer einfach gewesen, die tragischen Geschichten zu beobachten, sagte Melgar. «Verschiedene Situationen stellten uns vor schwere moralische Fragen. Wir mussten uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir zum Arbeiten da sind und unsere Arbeit beobachtend geschieht.»
Er habe selbst nicht in das Geschehen eingegriffen, hoffe aber doch, dass der Film den poträtierten Leuten auf einer anderen Ebene helfen könne: «`L`abri` soll zum Thema sensibilisieren und Diskussionen auslösen. Bedenken Sie, die porträtierten Obdachlosen haben fast alle einen EU-Pass. Einige von ihnen arbeiten, andere versuchen eine Arbeitsbewilligung zu erhalten. Das sind Menschen, die unsere Gesetze respektieren. Dennoch leben sie als Phantome ohne Rechte und abseits der Gesellschaft.»