Der Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», Felix E. Müller, übt scharfe Kritik am Bundesgericht. Er sieht die Pressefreiheit durch die Verurteilung eines NZZ-Journalisten, der vertrauliche Aussagen von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf zum Streit mit Ex-Bundesanwalt Erwin Beyeler veröffentlicht hatte, in Gefahr. «Sie ist gefährdet durch die vollständige Willkür der gegenwärtigen Regelung», sagte Müller am Dienstag gegenüber dem Klein Report. «Gilt weiterhin ein formaler Geheimhaltungsbegriff, müsste jeder Satz aus einer Kommissionssitzung, der den Weg in die Medien findet, eingeklagt werden.»
Er befürchtet, dass damit den Klagefreudigen alle Türen und Tore offenstehen. «Da stellt sich die Frage, wann und gegen wen geklagt wird», so Müller. «Hier ist die Vermutung nicht abwegig, dass man sich auf Journalisten konzentrieren könnte, welche gewissen Politikern ein Dorn im Auge sind - beispielsweise weil sie sich durch besonders kritische Berichterstattung auszeichnen.»
Reporter ohne Grenzen hat die Schweiz in der Rangliste der Pressefreiheit in diesem Jahr unter anderem auch von Platz acht auf Platz 14 zurückgestuft, weil es immer wieder vorkommen soll, dass Interessenvertreter und Anwälte Druck auf Redaktionen ausüben und Klagen androhen würden. Dass heute öfter geklagt wird, dem widerspricht Felix E. Müller nicht. «Ja, diese Tendenz ist festzustellen», sagte er. «In der Politik ist es eindeutig so, dabei vergessen die klagenden Politiker immer wieder, dass die Geheimnisverletzung durch andere Politiker begangen wurde, nicht durch die Medien. Und es gibt mehr Anwälte, die sich auf solche Fragen spezialisiert haben.»
Die jetzige Regelung hält er deshalb für nicht haltbar. «Ein Gesetz, das - sagen wir einmal - auf drei Prozent der Fälle angewandt wird, grenzt an Willkür», sagte Müller. «Es braucht mit andern Worten zwingend eine inhaltliche Qualifikation zur Beurteilung von Amtsgeheimnisverletzungen.»
Die Chancen am Menschenrechts-Gerichtshof in Strassburg, an den die «NZZ am Sonntag» den Fall weitergezogen hat, schätzt Müller für gut ein. «Ich erachte die Aussichten besser als nur 50 Prozent, weil der Europäische Gerichtshof im Zweifelsfall eher zur Verteidigung der Pressefreiheit neigt», sagte er gegenüber dem Klein Report.
Für den Journalisten der «NZZ am Sonntag» spielt das Urteil zumindest finanziell keine Rolle, die Zeitung übernimmt die Busse. «Selbstverständlich, weil der betroffene Journalist ganz normal seinen Job und nichts anderes gemacht hat als viele seiner Bundeshauskollegen jahrein, jahraus», so Müller.
Am 19.4.2009: Erwin Beyelers Gedanken - Bundesanwalt ärgert sich über «Indiskretionswirtschaft»