In der Berner «Brasserie Lorraine» hat die aus den USA überschwappende Wokeness-Welle ein neues Level der Irrationalität erreicht und der linken Szenebeiz einen internationalen Shitstorm beschert – zu Recht.
Ein Kommentar für den Klein Report von Artur Kilian Vogel, Journalist, Schriftsteller und einstiger Chefredaktor der Berner Tageszeitung «Der Bund».
Die Brasserie Lorraine ist eine selbstverwaltete links-grüne Wohlfühloase mitten im gleichnamigen, zunehmend schicker werdenden ehemaligen Berner Arbeiterquartier. «Uns ist wichtig, dass die Brasserie Lorraine ein Ort ist, an dem sich alle wohl und sicher fühlen und unsere Gäst*innen sich immer bei uns melden können», teilt die Beiz dazu selber in der heutzutage üblichen, verquasten Gendersternchensprache mit.
Ein paar dieser «Gäst*innen» haben sich am 18. Juli nicht wohlgefühlt: Sie, bis heute anonym geblieben, äusserten beim Beizen-Team «Unwohlsein» über einen Auftritt des Berner Mundartmusikers Lauwarm mit seiner Band. Lauwarm, bis zum besagten 18. Juli ein Geheimtipp, ist laut eigener Darstellung «ein aufstrebender Mundartkünstler aus Bern, der Neues wagt. Seine Musik reicht von Reggae bis hin zu Indie World und Pop. Die Inspiration findet er an vielen Ecken, was seine Musik so spannend und vielfältig macht.»
Gerade diese Vielfalt wurde Lauwarm zum Verhängnis. Denn er verstiess gleich in dreifacher Hinsicht gegen das ungeschriebene, aber von einer radikalisierten, lautstarken Minderheit umso exzessiver gehandhabte Verbot der «kulturellen Aneignung»: Erstens geht es offenbar gar nicht, dass ein weisser (!) Musiker Reggae spielt. Reggae dürfen nur rassenreine Jamaikaner spielen, sonst niemand. (Dass Norval Marley, der Vater des berühmtesten Reggae-Musikers Bob Marley, aus Crowborough, East Sussex, England stammte und ein weisser Plantagenaufseher war, ist da nur ein lästiges Aperçu.)
Zweite Sünde: Mitglieder von Lauwarms Begleitband (er selber trägt zum Vollbart Glatze) hatten ihr Haupthaar zu sogenannten Dreadlocks zwirnen lassen. Ein krasser Ausdruck von postkolonialer kultureller Ausbeutung, denn Dreadlocks tragen jamaikanische Rastafari und, in ihrem Gefolge, afroamerikanische Aktivisten in den USA, aber sicher nicht schweizerische Mundartmusiker. Drittens zeugt auch die Tatsache, dass einige Bandmitglieder afrikanische Kleidung trugen, von ihrer kulturellen Übergriffigkeit.
Der letzte Punkt ist am einfachsten zu widerlegen: Schneider in Bamako, Ouagadougou, Bobodioulasso, Mopti, Dakar oder Niamey waren jeweils happy, wenn sie uns afrikanische Kleider verkaufen konnten. Von Ausbeutung keine Spur, im Gegenteil: Bei uns «Toubabs» liessen sich substanziell bessere Verkaufspreise erzielen.
Das Brasserie-Kollektiv brach aufgrund dieses «Unwohlseins» das Lauwarm-Konzert zum Missfallen einiger Besucher und der Band selber ab. Dieser windelweiche und überstürzte Aktivismus löste einen internationalen Shitstorm aus; zahlreiche ausländische Medien, in Deutschland zum Beispiel «Spiegel», «Bild» und «Focus», berichteten kopfschüttelnd darüber. In den Sozialen Medien gab es heftigste Reaktionen.
Das war den Beizenbetreibern nun auch wieder nicht recht. Sie versuchten in mehreren Stellungnahmen, sich herauszureden: «Wir behaupten nicht, dass wir mit dem Abbruch des Konzertes das Richtige getan haben. Es jedoch einfach weiterlaufen zu lassen, hat sich auch falsch angefühlt. Wir könnten es auch Überforderung nennen», ist etwa zu lesen. Das komplexe Thema, mahnten die Brasserie-Leute gleichzeitig, solle nicht auf vereinfachende Fragen wie die nach Kleidern und Frisuren hinauslaufen. Doch genau das hat das Kollektiv losgetreten.
Der Kampf gegen «kulturelle Aneigung» führt zu absurden Situationen: Im März dieses Jahres machte die «Fridays for Future »-Bewegung in Deutschland Schlagzeilen, als sie die (weisse) Musikerin Ronja Maltzahn zu einem Konzert während einer Demo zuerst ein-, dann wieder auslud. Begründet wurde die Absage mit Maltzahns Dreadlocks. Sie sei wieder genehm, wenn sie diese abschnitte, hiess es. Die Schauspielerin Helen Mirren soll Israels erste Regierungschefin Golda Meir nicht darstellen, weil sie nicht jüdisch ist. Oder die Gedichte der schwarzen amerikanischen Dichterin Amanda Gorman sollen nicht von einer Weissen übersetzt werden. Wie wenn Musik mit der Frisur zu tun hätte, Religion etwas über die Schaupielkunst oder die Hautfarbe etwas über die Qualität einer Übersetzung aussagten.
Zwar sind Kololonialismus und Rassismus längst nicht aufgearbeitet. Aber das Kulturverständnis, das in der Brasserie Lorraine oder gegenüber Ronja Maltzahn an den Tag gelegt wurde und von «woken» Aktivistinnen und Aktivisten der ganzen Menschheit aufgezwungen werden soll, hat mit einer echten Aufarbeitung nichts zu tun. Denn hier wird Kultur nicht als dynamischer Prozess verstanden, der zu permanenter Erneuerung führt. Sondern sie wird als statisch und unveränderlich dargestellt und zudem, sozusagen als biologisches Merkmal, gewissen angeblich homogenen Ethnien ein- für allemal zugewiesen.
Das erzeugt ein grundsätzliches Missbehagen. Die Bewegung der «Woken» gibt sich gern liberal, kämpft angeblich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und bewirkt tatsächlich das Gegenteil: Jede und jeder soll sein Geschlecht frei und ohne jede Berücksichtigung biologischer Voraussetzungen wählen können. Aber wie jemand zu denken, sich zu kleiden und zu frisieren, welche Musik er zu mögen und welche Rollen er zu spielen hat, wird ihm aufgrund biologischer oder religiöser Gegebenheiten ultimativ vorgeschrieben. Da wird die Grenze zum Rassismus, den man angeblich bekämpft, zumindest geritzt oder bereits überschritten.
Einen positiven Punkt immerhin vermochte der Berner Musikkritiker, Autor und Satiriker Bänz Friedli in einem Interview mit dem «Blick» zu sehen: «Wenigstens sind Lauwarm jetzt weltberühmt. Danke, ‘Brass’ Lorraine!»