Gefühlt sind die Frauen schon längst an der Macht und die Menschen alle pansexuell.
In der Zeitungsbranche gelten indessen andere Gesetze. In der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» vom 18. Dezember 2019 schafft es der Schriftsteller Thomas Hettche (55) über «Die Freiheit der Kunst und das Leid der Welt» unter dem halbseitigen Bild der fast nackten Künstlerin Emma Sulkowicz zu schreiben, ohne auch nur «eine einzige» Künstlerin zu erwähnen.
Dafür zitiert Hettche alle fünf Zeilen «grosse» Männer. Armin Nassehi, Francis Fukuyama, Herfried Münkler, Fjodor Michailowitsch Dostojweski, Georg Seesslen, Thomas Mann, Joseph Breitbach, dann die üblichen Verdächtigen wie Woody Allen, Roman Polanski, Vladimir Nabokov und andere: Ausgerechnet diese Herren sollen Thomas Hettche zur Seite stehen bei seinem Leiden an den Identitätskämpfen.
Der Essay beruht auf der Dankesrede von Thomas Hettche anlässlich der diesjährigen Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises. Dieser ist mit 50'000 Euro dotiert. Die Auszeichnung wurde bisher erst an sieben (!) Frauen vergeben.
Nun also ein Preisträger, der das «utopische Potential» von Kunst und Medien vor allem dadurch bedroht sieht, dass die «Gegenwart» das «groteske Bedürfnis» hat, «Dutzende von Geschlechtern zu definieren».
Der Essay zeigt: Noch selten war die Distanz zwischen gefühlter und realer Wirklichkeit so gross wie in diesem Jahr.